Ihr wahrer Name
verraten, so daß der Mensch, den sie liebte oder von dem sie glaubte, daß er sie liebte, eigentlich nie existierte.«
»Dann könnte der Schmerz von der Erinnerung an einen zweiten Verlust herstammen. Spionier ihr nicht nach, Vic. Laß ihr Zeit, dir die Geschichte zu erzählen, wenn sie sich stark genug dazu fühlt.«
Ich hielt den Blick auf die Straße gerichtet: »Und wenn sie es mir nie erzählt?« Er lehnte sich zu mir herüber, um mir eine Träne von der Wange zu wischen. »Dann hat das nichts mit deinem Versagen als Freundin zu tun. Es geht um ihre Dämonen, nicht um dein Versagen.« Den Rest der Fahrt sagte ich kaum etwas. Es waren etwas mehr als hundertfünfzig Kilometer um das südliche Ende des Lake Michigan herum; ich gab mich ganz dem Rhythmus des Wagens und der Straße hin.
Morrell hatte ein Zimmer in einem Gasthaus mit Blick auf den Lake Michigan gebucht. Nachdem wir unsere Sachen ausgepackt hatten, machten wir einen Spaziergang am Ufer. Schwer zu glauben, daß dies derselbe See war, an dem Chicago lag - die langgestreckten Dünen, in denen es nur Vögel und Präriegras gab, waren eine völlig andere Welt als der immerwährende Lärm und Schmutz der Stadt.
Drei Wochen nach dem Labor Day hatten wir das Ufer des Sees ganz für uns. Als ich den Wind vom See in meinen Haaren spürte und den Sand unter meinen Füßen zum Singen brachte, indem ich mit der nackten Ferse darüberrieb, empfand ich so etwas wie inneren Frieden. Ich spürte, wie die Anspannung aus meinem Gesicht wich.
»Morrell, es wird sehr schwer für mich sein, die nächsten Monate ohne dich zu leben. Ich weiß, daß die Reise spannend wird und du sie unbedingt machen willst. Die Freude gönne ich dir. Aber trotzdem wird es gerade jetzt nicht leicht für mich sein, wenn du weg bist.« Er zog mich an sich. »Es wird mir auch schwerfallen, von dir getrennt zu sein, pepaiola, denn du bringst mich immer zum Niesen mit deinen feurigen Bemerkungen.«
Ich hatte Morrell einmal erzählt, daß mein Vater meine Mutter und mich früher immer so genannt hatte - es war eins der wenigen italienischen Wörter, die er von meiner Mutter gelernt hatte. Pfeffermühle. Meine beiden pepaiole, sagte er dann und tat so, als niese er, wenn wir ihm wieder einmal wegen irgend etwas in den Ohren lagen. Ich bekomme ja eine ganz rote Nase. Na schön, dann machen wir's eben, wie ihr wollt, ich muß schließlich auf meine Nase aufpassen. Als ich ein kleines Mädchen war, brachte er mich immer zum Lachen mit seinem gespielten Niesen. »Pepaiola, hoppla, hier gibt's wirklich was zu niesen!« Ich warf eine Handvoll Sand in Morrells Richtung und lief von ihm weg, das Seeufer entlang. Er sprintete mir nach, was er normalerweise nicht tut - er rennt nicht gern, und außerdem bin ich schneller als er. Ich wurde ein bißchen langsamer, damit er mich einholte. Den Rest des Tages mieden wir alle schwierigen Themen, darunter auch seine bevorstehende Abreise. Die Luft war kühl, aber der See immer noch warm: Wir schwammen nackt im Dunkeln, hüllten uns dann am Ufer in eine Decke und liebten uns mit Andromeda am Himmel über uns und Orion, dem Jäger, meinem Glücksbringer, im Osten, zum Greifen nah. Sonntag mittag schlüpften wir dann widerstrebend in unsere festliche Kleidung und machten uns auf den Weg zurück in die Stadt, zum Abschlußkonzert des Cellini-Ensembles in Chicago.
Als wir an der Tankstelle kurz vor der Mautstation hielten, war das Wochenende für uns beide offiziell vorüber, und ich kaufte die Sonntagszeitungen. Durhams Protestaktion lieferte nicht nur im Nachrichten-, sondern auch im Kommentarteil des Herald-Star die dicksten Schlagzeilen. Ich war froh zu sehen, daß mein Interview mit Beth Blacksin und Murray Durham veranlaßt hatte, mir gegenüber eine versöhnlichere Tonart anzuschlagen.
Mr. Durham hat die Behauptung zurückgenommen, die Chicagoer Privatdetektivin V.l. Warshawski habe eine trauernde Frau während der Beisetzung ihres Mannes zur Rede gestellt. »Die Angehörigen der Gemeinde, mit denen ich gesprochen habe, waren verständlicherweise vollkommen aus der Fassung angesichts der schrecklichen Unmenschlichkeit einer Versicherungsgesellschaft, die ihre Zusage, die Kosten für die Beisetzung eines geliebten Menschen zu übernehmen, nicht gehalten hat; in ihrer Erregung haben sie möglicherweise Ms. Warshawskis Rolle in der Angelegenheit falsch dargestellt.«
»Möglicherweise falsch dargestellt? Kann er denn nicht offen sagen, daß er sich
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