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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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weil Mutti mich nicht mehr wollte. Bis zum September, als der Krieg ausbrach und niemand mehr Österreich verlassen konnte, sagte Minna das in regelmäßigen Abständen immer wieder.
    Heute bin ich mir sicher, daß sie das tat, weil sie meine Mutter so sehr haßte, Lingerl, den kleinen Schmetterling mit den weichen goldenen Locken, dem hübschen Lächeln und der reizenden Art. Minna konnte Lingerl nur durch mich weh tun. Vielleicht war die Tatsache, daß meine Mutter nie davon erfuhr, der Grund, warum sie mich noch mehr quälte: Sie war so wütend darüber, nicht Lingerl persönlich verletzen zu können, daß sie weiter auf mir herumhackte. Möglicherweise reagierte sie deswegen so haßerfüllt, als wir die Nachricht über ihr Schicksal erhielten.
    Das einzige, was ich in jenem Sommer des Jahres 39, meinem ersten Sommer in London, wußte, war, was mein Papa mir gesagt hatte: Daß er kommen würde, wenn ich eine Arbeit für ihn finden könnte. Bewaffnet mit einem deutsch-englischen Wörterbuch, das ich in Minnas Wohnzimmer gefunden hatte, verbrachte ich den Sommer damit, die Straßen in der Nähe von Minnas Haus in Kentish Town abzugehen. Die Wangen rot vor Verlegenheit, klingelte ich an Türen und stotterte: »Mein Vater, er braucht Arbeit, er macht alles. Garten, er macht Garten. Haus, er putzt Haus. Kohle, er bringt Kohle, macht Haus warm.«
    Schließlich landete ich bei dem Haus hinter dem von Minna, das ich schon längere Zeit von meinem Speicherfenster aus beobachtet hatte, weil es so anders war als ihres. Das von Minna war ein schmales Holzhaus, das fast die Häuser der Nachbarn zu beiden Seiten berührte. Bei dem Garten handelte es sich um ein Rechteck, genauso schmal wie das Haus, mit nur ein paar kümmerlichen Himbeersträuchern darin. Bis heute mag ich keine Himbeeren... Jedenfalls war das Haus dahinter aus Stein, hatte einen großen Garten, Rosen, einen Apfelbaum, ein kleines Gemüsebeet und Ciaire. Ich kannte ihren Namen, weil ihre Mutter und ihre ältere Schwester sie so riefen. Sie saß oft auf einer Schaukel unter ihrer Pergola, die blonden Haare nach hinten geworfen, und las in einem Buch.
    »Ciaire«, rief ihre Mutter dann. »Es gibt Tee, mein Schatz. Du machst dir die Augen kaputt, wenn du in der Sonne liest.«
    Natürlich verstand ich anfangs noch nicht, was sie sagte, obwohl ich Claires Namen hörte, aber die Worte wiederholten sich jeden Sommer, so daß in meiner Erinnerung all jene Sommer zu einem werden; in meiner Erinnerung verstehe ich Mrs. Tallmadge von Anfang an.
    Ciaire lernte, weil sie im folgenden Jahr ihren Schulabschluß machen wollte; sie hatte vor, Medizin zu studieren - auch das habe ich erst später erfahren. Ihre Schwester Vanessa war fünf Jahre älter als Ciaire. Vanessa hatte eine ihrem Stand angemessene Arbeit, was, weiß ich jetzt nicht mehr. Allerdings begriff ich sehr wohl, daß sie in jenem Sommer heiraten wollte - alle kleinen Mädchen wissen über Bräute und Hochzeiten Bescheid, weil sie die Vorbereitungen immer genau beobachten. Ich sah Vanessa zu, wenn sie in den Garten kam: Sie bat Ciaire, ein Kleid oder einen Hut anzuprobieren oder einen Stoff zu bewundern, und wenn ihr keine andere Möglichkeit mehr einfiel, die Aufmerksamkeit ihrer Schwester auf sich zu lenken, zog sie Ciaire einfach das Buch weg. Dann jagten die beiden einander durch den Garten und landeten lachend unter der Pergola.
    Ich wünschte mir so sehnlich, Teil ihres Lebens zu sein, daß ich mir abends im Bett Geschichten über sie ausdachte. Ciaire geriet in irgendwelche Schwierigkeiten, aus denen ich sie rettete. Ciaire wußte irgendwie über mein Leben mit Cousine Minna Bescheid und stellte diese zur Rede, hielt ihr all ihre Vergehen vor und rettete mich. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet Ciaire meine Heldin wurde, nicht die Mutter oder die Braut - vielleicht weil Ciaire mir altersmäßig näher war und ich mir vorstellen konnte, sie zu sein. Ich weiß nur, daß ich die beiden Schwestern miteinander lachen sah und in Tränen ausbrach.
    Ich hob mir ihr Haus bis zuletzt auf, weil ich nicht wollte, daß Ciaire Mitleid mit mir hatte. Ich stellte mir Papa als Bediensteten in ihrem Haus vor; dann würde sie nie lachend mit mir auf der Schaukel sitzen. Aber in den Briefen, die in jenem Sommer noch zwischen England und Wien verschickt werden konnten, erinnerte Papa mich jedesmal daran, daß ich ihm eine Arbeit suchen mußte. Auch heute noch, nach all den Jahren, verüble ich es Minna, daß sie ihm keine

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