Ihr wahrer Name
versuchte, weder Ciaire noch ihren Verlobten zu verärgern.
Ciaire sagte mir, ich solle die Hoffnung nicht aufgeben. »Aber, mein kleines Äffchen, du mußt Englisch lernen. In ein paar Wochen beginnt die Schule.«
»In Wien«, sagte ich. »Ich gehe nach Hause, besuche Schule dort.«
Ciaire schüttelte den Kopf. »Möglicherweise kommt es zum Krieg in Europa; vielleicht kommst du lange Zeit nicht mehr nach Hause. Nein, wir müssen dir Englisch beibringen.« So veränderte sich mein Leben über Nacht. Natürlich wohnte ich immer noch bei Minna, erledigte ihre Besorgungen und ertrug ihre Verbitterung, aber meine Heldin führte mich tatsächlich in die Pergola. Jeden Nachmittag brachte sie mich dazu, Englisch mit ihr zu reden. Als die Schule anfing, ging sie mit mir zur örtlichen Oberschule, stellte mich der Leiterin vor und half mir hin und wieder beim Lernen.
Ich dankte es ihr mit grenzenloser Bewunderung. Sie war das hübscheste Mädchen in ganz London. Sie wurde zu meinem großen Vorbild in puncto englische Manieren: Ciaire sagt, das tut man nicht, erklärte ich Minna kühl. Ciaire sagt, das tut man immer. Ich ahmte ihren Akzent nach und ihr Verhalten, von der Art und Weise, wie sie sich auf die Gartenschaukel setzte, bis zu ihrer Vorliebe für Hüte.
Als ich erfuhr, daß Ciaire Medizin studieren wollte, wenn sie einen Platz im Royal Free Hospital bekam, wurde das auch mein Ziel.
1 5
Ein ungebetener Gast
Der kurze Michigan-Trip mit Morrell half mir, die Sorgen vom Freitag in den Hintergrund zu drängen - hauptsächlich weil Morrell so vernünftig war. Da ich mich schon mal auf dem Weg aus der Stadt heraus befand, wollte ich noch einen kleinen Umweg nach Hyde Park machen, um mich in Fepples Büro nach der Sommers-Akte umzusehen. Doch Morrell redete mir das mit dem Hinweis darauf aus, daß wir uns auf achtundvierzig Stunden ohne Arbeit geeinigt hatten. »Ich habe meinen Laptop nicht mitgenommen, damit ich nicht in Versuchung komme, Humane Medicine E-Mails zu schicken. Dann wirst du es wohl schaffen, dich von einem Versicherungsvertreter fernzuhalten, der deiner Schilderung nach sowieso ein ziemlich widerlicher Zeitgenosse ist, V.l.« Morrell holte meine Dietrichsammlung aus meiner Tasche und steckte sie in seine Jeans. »Außerdem möchte ich nicht zum Komplizen werden bei deinen außergeschäftlichen Informations-beschaffungsexkursionen.«
Ich mußte trotz meiner vorübergehenden Verärgerung lachen. Er hatte recht, warum sollte ich mir meine letzten Tage mit Morrell durch Gedanken über diesen Wurm Fepple verderben? Ich beschloß, nicht einmal einen Blick in die Zeitungen zu werfen, die ich ungelesen in meine Tasche gesteckt hatte. Es war nicht nötig, daß ich meinen Blutdruck durch Bull Durhams Attacken gegen mich in die Höhe treiben ließ.
Schwerer fiel es mir, die Sorge um Lotty beiseite zu schieben, aber schließlich betraf meine Abmachung mit Morrell nicht unsere Freunde. Ich versuchte, ihm die Qual zu beschreiben. Er lauschte mir, während ich fuhr, konnte mir aber auch nicht erklären, was sich hinter ihrem merkwürdigen Verhalten verbarg. »Sie hat ihre Familie im Krieg verloren, stimmt's?«
»Ja, alle außer ihrem jüngeren Bruder Hugo, der zusammen mit ihr nach England gegangen ist. Er lebt jetzt in Montreal und leitet dort eine kleine Kette schicker Damenboutiquen in Montreal und Toronto. Ihr Onkel Stefan - ich glaube, er war einer der Brüder ihres Großvaters - ist in den zwanziger Jahren nach Chicago gekommen. Den größten Teil des Krieges hat er als Gast der Regierung in Fort Leavenworth verbracht. Wegen Fälschung«, fügte ich hinzu, als ich Morrells fragenden Blick sah. »Ein Meistergraveur, der sich in das Gesicht von Andrew Jackson verliebt, aber leider ein paar Details übersehen hat. Also spielte er in ihrer Kindheit keine Rolle.« »Dann war sie also neun oder zehn, als sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hat. Kein Wunder, daß die Erinnerung an die Kriegszeit für sie so schmerzlich ist. Hast du nicht gesagt, sie sei tot, diese Person namens Radbuka?«
»Vielleicht handelt es sich bei der Person auch um eine Sie. Lotty hat sich darüber nicht ausgelassen. Sie hat nur gesagt, daß die betreffende Person nicht mehr existiert.« Ich dachte nach. »Ein merkwürdiger Satz: Die betreffende Person existiert nicht mehr. Er könnte Unterschiedliches bedeuten - daß die Person gestorben ist oder ihre Identität verändert hat. Vielleicht hat diese Person aber auch Lotty irgendwie
Weitere Kostenlose Bücher