Ihr wahrer Name
Musik einsetzte und Carl mit seinem kontrolliert lyrischen Stil zu spielen begann, entspannte ich mich allmählich. In einem Schubert-Trio weckte die Fülle von Michael Loewenthals Spiel, die Vertrautheit, die er zu empfinden schien - mit seinem Cello, mit seinen Musikerkollegen -, tiefe Sehnsucht in mir. Morrell ergriff meine Hand und drückte sie sanft: Die örtliche Distanz wird uns nicht trennen.
In der Pause fragte ich Agnes, ob sie wisse, worüber Lotty und Max sich gestritten hätten. Sie schüttelte den Kopf. »Michael sagt, sie streiten sich schon den ganzen Sommer wegen der Konferenz über die Juden, auf der Max am Mittwoch gesprochen hat. Und jetzt scheint's um einen Mann zu gehen, den Max dort kennengelernt oder gehört hat oder so ähnlich. Ich weiß es nicht so genau, weil ich da gerade versucht habe, Calia dazu zu bringen, daß sie sich stillhält, damit ich ihr die Bänder ins Haar flechten kann.«
Nach dem Konzert fragte Agnes mich, ob Calia mit uns nach Evanston fahren könne. »Sie war jetzt wirklich artig und hat sich drei Stunden lang absolut still verhalten. Je eher sie rumlaufen und sich austoben kann, desto besser. Und ich würde gern hierbleiben, bis Michael fertig ist.« Calias Engelslaune verflüchtigte sich, sobald wir die Orchestra Hall verließen. Sie rannte kreischend die Straße hinunter und warf nicht nur ihre Haarbänder, sondern sogar Ninshubur, ihren blauen Plüschhund, weg. Bevor sie auf die Fahrbahn lief, holte ich sie ein und hob sie hoch. »Ich bin kein Baby, ich will nicht getragen werden«, brüllte sie.
»Natürlich nicht. Ein Baby würde keinen solchen Zirkus machen.« Ich keuchte unter ihrem Gewicht, als ich sie die Treppe zur Garage hinuntertrug. Morrell lachte über uns beide, was zur Folge hatte, daß Calias Gesicht sofort einen eisigwürdevollen Ausdruck annahm.
»Ich bin höchst verärgert über dieses Verhalten«, äffte sie ihre Mutter nach, die kleinen Arme vor der Brust verschränkt.
»Dito«, murmelte ich und stellte sie wieder auf den Boden.
Morrell setzte sie in den Wagen und reichte ihr mit ernster Miene Ninshubur. Calia erlaubte mir nicht, ihr den Sicherheitsgurt anzulegen, sondern wählte sich Morrell als Verbündeten gegen mich und hörte erst auf, sich zu winden, als er sich zu ihr hinein beugte. Während der Fahrt zu Max gab sie mir zu verstehen, wie wenig sie mit meinem Verhalten einverstanden war, indem sie ihrer Puppe einen Vortrag hielt: »Du bist ein sehr, sehr unartiges Mädchen. Hebst einfach Ninshubur auf und trägst ihn die Treppe runter, obwohl er selber laufen wollte. Ninshubur ist kein Baby. Er muß rennen und sich austoben.« Immerhin lenkte ihr Geplapper mich von meinen anderen Sorgen ab. Vielleicht war das ja ein guter Grund, ein Kind zu haben: Dann hatte man keine Energie mehr, sich über irgendwelche anderen Sachen den Kopf zu zerbrechen.
Als wir bei Max ankamen, standen schon ein paar Autos vor seinem Haus, darunter auch Lottys dunkelgrüner Infiniti, dessen zerbeulte Kotflügel Zeugnis gaben von ihrer unbeugsamen Einstellung gegenüber dem Straßenverkehr. Sie hatte erst mit dreißig, als sie nach Chicago kam, fahren gelernt, vermutlich bei einem Crash-Car-Piloten. Offenbar hatte sie ihre Auseinandersetzung mit Max beigelegt, denn sonst wäre sie nicht zu dem Fest geblieben. Ein Mann im schwarzen Anzug öffnete uns die Tür. Calia rannte den Flur hinunter und rief dabei nach ihrem Großvater. Als wir ihr ein bißchen langsamer folgten, sahen wir zwei weitere Männer in Kellnerkleidung im Eßzimmer Servietten falten. Max hatte einige kleine Tische dort und im angrenzenden Salon aufgestellt, so daß die Gäste im Sitzen essen konnten.
Lotty, die mit dem Rücken zur Tür stand, zählte gerade Gabeln ab und legte sie auf eine Anrichte. Ihrer starren Haltung war ihre Verärgerung anzusehen. Wir schlüpften vorbei, ohne etwas zu ihr zu sagen.
»Nicht die beste Stimmung für eine Party«, murmelte ich. »Wir gratulieren nur Carl zu dem gelungenen Konzert, und dann machen wir uns wieder aus dem Staub«, pflichtete mir Morrell bei.
Wir fanden Max in der Küche, wo er sich gerade mit seiner Haushälterin über die Organisation der Party unterhielt. Calia rannte zu ihm und zupfte ihn am Ärmel. Er hob sie auf die Arbeitsfläche, ließ sich aber nicht durch sie von seinem Gespräch mit Mrs. Squires ablenken. Max ist schon seit Jahren in der Verwaltung tätig - er weiß, daß man seine Arbeit nie fertig bekommt, wenn man sich ständig
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