Ihr wahrer Name
getäuscht hat?« fauchte ich Morrell an.
Murray hatte ein paar Sätze angefügt, in denen es hieß, meine Nachforschungen hätten beunruhigende Fragen über die Rolle sowohl der Midway Agency als auch der Ajax Insurance aufgeworfen. Howard Fepple habe auf telefonische Anfragen nicht reagiert. Ein Sprecher der Ajax habe mitgeteilt, das Unternehmen habe aufgedeckt, daß zehn Jahre zuvor unrechtmäßig Anspruch auf Auszahlung einer Sterbeversicherung erhoben worden sei; man untersuche gerade, wie das habe passieren können.
Auf der Kommentarseite stand ein Artikel vom Leiter des Illinois Insurance Institute. Ich las ihn Morrell laut vor:
Stellen Sie sich vor, Sie reisen nach Berlin und entdecken dort ein großes Museum, das an die Schrecken von drei Jahrhunderten der Sklaverei in den Vereinigten Staaten erinnert. Stellen Sie sich weiter vor, daß es in Frankfurt, München, Köln und Bonn jeweils kleinere Versionen dieses Museums zur Erinnerung an die Sklaverei in Amerika gibt. So ungefähr ist es für Amerika, wenn es Holocaust-Museen errichtet, während es die Greueltaten, die in diesem Land gegen Afroamerikaner und Indianer verübt wurden, vollkommen ignoriert.
Und nun stellen Sie sich vor, daß in Deutschland ein Gesetz verabschiedet wird, das besagt, daß amerikanische Unternehmen, die von der Sklaverei profitiert haben, keine Geschäfte in Europa machen dürfen. Genau das möchte Illinois mit deutschen Unternehmen machen. Die Pfade der Vergangenheit sind verschlungen. Niemand hat eine völlig weiße Weste, aber wenn wir sie jedesmal waschen müssen, bevor wir Autos, Chemikalien oder auch Versicherungen verkaufen, kommt die Wirtschaft zum Stillstand.
»Und so weiter und so fort. Lotty ist also nicht die einzige, die möchte, daß man die Vergangenheit ruhen läßt. Aber der Typ hier argumentiert ziemlich glatt und oberflächlich.« Morrell verzog das Gesicht. »Ja. Er klingt wie ein warmherziger Liberaler, der sich Sorgen um die Afroamerikaner und die Indianer macht, aber eigentlich möchte er nur verhindern, daß irgend jemand Einsicht in Versicherungsakten nimmt, um festzustellen, wie viele Versicherungen verkauft wurden, die die Gesellschaften in Illinois nun nicht auszahlen wollen.«
»Die Sommers' haben ebenfalls eine Versicherung abgeschlossen, die sie nicht ausbezahlt bekommen. Allerdings glaube ich nicht, daß die Gesellschaft sie übers Ohr gehauen hat, sondern der Agent. Wenn ich doch nur an die Akten bei Fepple rankommen könnte.« »Nicht heute, Ms. Warshawski. Ich gebe dir deine Dietrichsammlung erst am Dienstag zurück, bevor ich an Bord der 777 gehe.«
Ich vertiefte mich lachend in den Sportteil. Die Cubs waren mittlerweile so tief gestürzt, daß sie eine Raumfähre brauchen würden, um wieder in die Nationalliga zu kommen. Bei den Sox hingegen schaute es ziemlich gut aus; sie hatten das beste Ergebnis vor der letzten Woche der Saison seit langem. Obwohl die Fachleute sagten, sie würden bereits in der ersten Runde der Play-Offs ausscheiden, war das immer noch eine kleine Sensation im Chicagoer Sportleben.
Wir erreichten die Orchestra Hall wenige Sekunden bevor die Türen geschlossen wurden. Michael Loewenthal hatte Karten für Morrell und mich zurücklegen lassen. Wir gesellten uns zu Agnes und Calia, die in einer Loge saßen. Calia sah wie ein kleiner Engel aus in ihrem weißen Smokkleid mit den daraufgestickten goldenen Rosen. Ihre Puppe und ihr kleiner blauer Hund, die zu ihr passend goldene Bänder trugen, befanden sich auf dem Stuhl neben ihr.
»Wo sind Lotty und Max?« flüsterte ich, als die Musiker die Bühne betraten.
»Max erledigt noch die letzten Vorbereitungen für die Party. Lotty ist zu ihm gefahren, um ihm zu helfen, aber dann hat's einen Riesenstreit zwischen Lotty, Max und Carl gegeben. Sie sieht nicht gut aus; ich weiß nicht, ob sie überhaupt bis zum Fest bleibt.«
»Sch, Mommy, Tante Vicory, ihr könnt doch nicht reden, wenn Daddy in der Öffentlichkeit spielt.« Calia bedachte uns mit einem strengen Blick.
Diesen Spruch hatte sie selbst in ihrem kurzen Leben schon oft genug gehört. Agnes und ich verstummten artig, aber ich wurde die Sorge um Lotty nicht los. Und wenn sie einen großen Krach mit Max gehabt hatte, freute ich mich auch nicht auf den Abend.
Die Musiker auf der Bühne wirkten distanziert in ihrer festlichen Kleidung, nicht wie Freunde, sondern wie Fremde. Einen Augenblick wünschte ich mir, wir wären nicht zu dem Konzert gegangen, aber sobald die
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