Ihr wahrer Name
war wütend, denn sie wollte, daß ich mit vierzehn von der Schule abging und in der Handschuhfabrik Geld verdiente. Aber ich erinnerte sie daran, daß sie 1939 nicht bereit gewesen war, meinen Vater für einen solchen Job zu empfehlen, und erklärte ihr, sie habe ganz schöne Nerven, wenn sie nun von mir erwarte, die Schule abzubrechen, um in der Fabrik zu arbeiten.
Sie und Victor versuchten außerdem, mich daran zu hindern, daß ich mich mit Freunden traf oder zu den Musikabenden bei Frau Herbst ging. Während des Krieges erhielten mich diese Abende am Leben. Sogar für jemanden wie mich, der keinerlei musikalische Begabung hatte, gab es immer etwas zu tun. Wir dachten uns kleine Operninszenierungen aus und improvisierten Chorveranstaltungen. Sogar während des Blitz, als die Deutschen Luftangriffe auf London flogen und man sich durch die Stadt tasten mußte, verließ ich türenschlagend Minnas Haus und ging über die dunklen Straßen zu Frau Herbsts Wohnung.
Manchmal fuhr ich auch mit dem Bus: Das war ein Abenteuer, weil die Busse die Verdunkelungsvorschriften beachten mußten, weswegen man erst merkte, daß einer kam, wenn er einen schon fast überrollte, und dann mußte man erraten, wo man ausstieg. Einmal entschied ich mich auf dem Heimweg falsch und landete Kilometer von Minnas Haus entfernt. Ein Luftschutzwart gabelte mich auf und ließ mich die Nacht bei ihm und seinen Kollegen im Keller verbringen. Es machte großen Spaß, zusammen mit den Männern wäßrigen Kakao zu trinken, während sie sich über Fußballergebnisse unterhielten, aber Minna verärgerte mein kleines Abenteuer nur noch mehr.
So große Sorgen wir uns auch um unsere Familien machten -nicht nur Hugo und ich, sondern auch die Leute in Frau Herbsts Gruppe -, keiner von uns wollte das Leben in Deutschland wiederaufnehmen. Deutsch sahen wir als Sprache der Unterdrückung. Deutschland, Osterreich und die Tschechoslowakei, das waren die Orte gewesen, wo wir hatten zusehen müssen, wie unsere geliebten Großeltern auf Händen und Knien die Gehsteige schrubbten, während die Menschen um sie herum johlend mit Dingen nach ihnen warfen. Wir veränderten sogar die Schreibweise unserer Namen: Ich machte aus »Lotte« »Lotty«, und Carl verwendete nun ein »C« statt des »K«, das ursprünglich in seinem Namen gewesen war.
Am Abend des V-E-Day setzte ich Hugo nach der Rede des Königs in die U-Bahn zurück nach Golders Green, wo die Nußbaums wohnten, und traf mich mit Max und einigen der anderen aus unserer Gruppe in Covent Garden, um dort auf Carl zu warten, der Mitglied des Sadlers-Wells-Orchesters war und an jenem Tag spielte. Tausende von Menschen hielten sich in Covent Garden auf, dem einzigen Ort in London, an dem man mitten in der Nacht einen Drink bekommen konnte.
Jemand reichte Flaschen mit Sekt durch die Menge, und wir schoben unsere persönlichen Sorgen beiseite und ließen uns von der Ausgelassenheit der Feiernden anstecken. Keine Bomben, keine Verdunkelung und keine winzigen wöchentlichen Butterzuteilungen mehr - obwohl das natürlich Optimismus aus Unwissenheit war; die Lebensmittelrationierung sollte noch Jahre andauern. Schließlich fand Carl uns, auf einem umgeworfenen Karren in der St. Martin's Lane sitzend. Der Besitzer, ein Obsthändler, war schon ein bißchen betrunken. Er schnitt sorgfältig Äpfel in Schnitze und fütterte mich und ein anderes Mädchen aus der Gruppe, das später ziemlich spießig wurde, Corgis züchtete und die Tories wählte. Damals war sie noch die kultivierteste unserer Gruppe, trug Lippenstift, ging mit amerikanischen Soldaten aus und bekam dafür Nylonstrümpfe, während ich meine Baumwollstrümpfe stopfte und mich neben ihr wie ein Schulmädchen ohne jeden Schick fühlte.
Carl machte eine tiefe Verbeugung vor dem Besitzer des Karrens und nahm dem Mann einen Apfelschnitz aus der Hand. »Das Stück gebe ich Miss Herschel«, sagte er und streckte es mir hin. Plötzlich wurde ich mir seiner Finger bewußt, als berührten sie meinen Körper. Ich umschloß seine Hand mit meiner und führte sie zusammen mit dem Apfel zu meinem Mund.
19
Ende der Durchsage
Meine Träume weckten mich noch vor dem Morgengrauen: Alpträume, daß ich Lotty verlor, meine Mutter starb, von gesichtslosen Gestalten, die mich durch Tunnel jagten, während Paul Radbuka zusah, hin- und hergerissen zwischen Weinen und manischem Gelächter. Ich lag schwitzend und mit wild klopfendem Herzen da. Neben mir schlief leise vor sich hin
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