Ihr wahrer Name
schnaubend Morrell. Ich drückte mich in seine Arme. Er hielt mich ein paar Minuten lang im Schlaf fest, dann drehte er sich weg, ohne aufzuwachen.
Ganz allmählich beruhigte sich mein Herzschlag wieder, aber trotz der Anstrengungen des vergangenen Tages gelang es mir nicht, noch einmal einzuschlafen. Die Bekenntnisse des Vorabends wirbelten in meinem Kopf herum wie Kleidung in einer Waschmaschine. Paul Radbukas Emotionen waren so wenig zu fassen und gleichzeitig so intensiv, daß ich nicht wußte, wie ich auf ihn reagieren sollte; Lottys und Carls Geschichte ließ mir genausowenig Ruhe. Es überraschte mich nicht, daß Max Lotty heiraten wollte, obwohl keiner von beiden mir gegenüber je etwas davon erwähnt hatte. Ich konzentrierte mich auf das kleinere Problem, um nicht über das größere nachdenken zu müssen, und fragte mich, ob Lotty so an ihr Single-Leben gewöhnt war, daß sie es vorzog, weiter allein zu bleiben. Auch Morrell und ich hatten uns schon darüber unterhalten zusammenzuziehen, aber obwohl wir beide früher einmal verheiratet gewesen waren, konnten wir uns nicht entschließen, unsere Unabhängigkeit aufzugeben. Und für Lotty, die immer allein gelebt hatte, wäre das eine noch schwerwiegendere Entscheidung.
Es lag auf der Hand, daß Lotty etwas über die Radbuka-Familie verschwieg, aber ich hatte keine Ahnung, was. Es handelte sich jedenfalls nicht um die Familie ihrer Mutter - sie war über diese Äußerung meinerseits entsetzt, ja fast schon empört gewesen. Vielleicht ging es um eine arme Einwandererfamilie, deren Schicksal sehr wichtig für sie gewesen war? Es gibt viele Quellen der Scham und der Schuld, aber mir fiel nichts ein, was mich so hätte schockieren können, daß es mich gegen Lotty aufgebracht hätte. Etwas, das sie nicht einmal Max erzählen wollte. Was, wenn Sofie Radbuka eine Patientin gewesen war, deren Behandlung sie während ihrer Ausbildung zur Ärztin verpfuscht hatte? Möglicherweise war Sofie Radbuka gestorben oder hatte im Koma gelegen; vielleicht hatte Lotty sich solche Vorwürfe gemacht, daß sie vorgab, unter Tuberkulose zu leiden, damit sie sich aufs Land zurückziehen konnte. Und aufgrund ihrer Schuldgefühle sowie einer Überidentifikation mit ihrer Patientin hatte sie dann den Namen Sofie Radbuka angenommen. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß eine solche Theorie allem widersprach, was ich über Lotty wußte, hätte sie mich auch nicht dazu gebracht, mich von ihr abzuwenden.
Die Annahme, daß sie vorgegeben hatte, unter Tuberkulose zu leiden, um aufs Land fahren und dort eine Affäre mit Sofie Radbuka - oder irgend jemandem sonst - zu haben, war lächerlich. Dazu hätte sie auch in London die Möglichkeit gehabt, ohne eine Ausbildung aufs Spiel zu setzen, die in den Vierzigern nur wenige Frauen schafften.
Es zermürbte mich zu sehen, wie Lotty sich immer mehr einem Nervenzusammenbruch annäherte. Ich versuchte, mir Morrells Rat ins Gedächtnis zu rufen, ihr nicht hinterherzu-spionieren. Wenn sie mir ihre Geheimnisse nicht erzählen wollte, waren es ihre eigenen Dämonen, nicht mein Versagen, die sie schweigen ließen. Außerdem sollte ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, darum zum Beispiel, den Fall zu lösen, für den Isaiah Sommers mich angeheuert hatte. Viel hatte ich in dieser Hinsicht noch nicht geschafft, außer daß ich Bull Durham dazu gebracht hatte, mich öffentlich zu diffamieren. Es war erst zwanzig vor sechs. Eins konnte ich für Isaiah Sommers tun. Und Morrell würde in die Luft gehen, wenn er davon erfuhr. Ich setzte mich auf. Morrell seufzte, wachte aber nicht auf. Nachdem ich die Jeans und das Sweatshirt aus der Tasche von unserem Wochenendtrip angezogen hatte, schlich ich mit meinen Laufschuhen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Morrell hatte mir mein Handy und meine Dietrichsammlung abgenommen. Ich ging noch einmal ins Schlafzimmer zurück, um seinen Rucksack zu holen und ihn ins Arbeitszimmer zu tragen - ich wollte nicht, daß er durch das Klappern der Schlüssel aufwachte. Ich hinterließ ihm eine Nachricht auf seinem Laptop: Bin zu einem frühen Termin in die Stadt gefahren. Bis heute abend zum Essen? Alles Liebe, V. Morrells Wohnung befand sich nur sechs Häuserblocks von der Davis-Hochbahnhaltestelle entfernt. Ich ging zusammen mit frühen Pendlern, Joggern und Leuten, die ihre Hunde ausführten, hinüber. Erstaunlich, wie viele Menschen schon unterwegs waren und wie viele von ihnen frisch und fit aussahen. Der Anblick
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