Ihr wahrer Name
Am liebsten hätte ich mich sofort verdrückt, doch vielleicht würde sich nie wieder eine Möglichkeit ergeben, die Sommers-Akte zu finden.
Die Schränke waren offen, was mich überraschte, denn bei meinem Besuch in der vergangenen Woche hatte Fepple sie mit großer Geste aufgesperrt, als er die Akten aufräumte, und hinterher sofort wieder verschlossen. Die dritte Schublade, in die er die Sommers-Akte gesteckt hatte, trug die Aufschrift »Al Hoffmans Kunden«.
Die Akten waren unordentlich, zum Teil verkehrt herum, in die Schublade gestopft. Als ich die erste herausholte - »Barney Williams« -, glaubte ich, am Ende des Alphabets zu sein, doch auf sie folgte »Larry Jenks«. Ohne die Uhr aus den Augen zu lassen, leerte ich die Schublade aus und steckte die Akten eine nach der anderen zurück. Die von Sommers befand sich nicht darunter. Ich ging die Akten auf der Suche nach irgendeinem Hinweis auf Sommers durch, fand aber nur Kopien von Policen und Zahlungspläne. Bei etwa einem Drittel handelte es sich um abgeschlossene Fälle, die mit den Vermerken »Bezahlt« oder »Wegen Nichtzahlung verfallen« versehen waren. Ich schaute in die anderen Schubladen, fand aber auch dort nichts. Ein halbes Dutzend Policen von bezahlten Versicherungen nahm ich mit: Mary Louise konnte überprüfen, ob sie an die Begünstigten ausgezahlt worden waren.
Ich lauschte nervös auf Stimmen vom Flur, konnte aber das Büro erst verlassen, wenn ich auch in dem Chaos auf dem Schreibtisch nach der Sommers-Akte gesucht hatte. Die Papiere waren voller Blut und Gehirnmasse. Ich wollte nichts durcheinanderbringen - die Leute von der Spurensuche würden sofort merken, daß sich da jemand umgesehen hatte -, doch ich mußte die Akte finden. Eine Hand über den Augen, redete ich mir ein, daß da nichts auf dem Stuhl war, und beugte mich über den Schreibtisch, um die Ecken der Dokumente vor Fepple leicht anzuheben. Ich arbeitete mich von der Mitte nach außen vor. Als ich nichts fand, wechselte ich vorsichtig, um in nichts zu treten, auf die andere Seite und schaute in die Schubladen des Schreibtisches. Nichts außer Hinweisen auf sein trostloses Leben: Halbleere Chipstüten, eine ungeöffnete Schachtel Kondome voller Krümel, Terminkalender, die bis in die achtziger Jahre zurückreichten, als sein Vater noch die Agentur geführt hatte, Bücher über Tischtennis. Wer hätte gedacht, daß er genug Durchhaltevermögen besessen hatte, um einen Sport auszuüben?
Mittlerweile war es neun. Je länger ich blieb, desto wahrscheinlicher wurde es, daß jemand mich entdeckte. Ich ging zur Tür, hielt mich links, um mich nicht im Glas zu spiegeln, und lauschte auf Geräusche vom Flur. Eine Gruppe von Frauen ging gerade vorbei, ich hörte ein »Guten Morgen« und ein »Wie war das Wochenende?«, ein »Viel Arbeit heute morgen bei Dr. Zabar« und ein »Na, wie war Melissas Geburtstagsparty?«. Dann Stille, das Klingeln des Aufzugs und ein paar Frauen mit einem Kleinkind. Als sie weg waren, öffnete ich die Tür einen Spalt. Der Flur war leer.
Beim Hinausgehen entdeckte ich Fepples Aktentasche in der Ecke hinter mir. Einem plötzlichen Impuls gehorchend, nahm ich sie. Während ich auf den Aufzug wartete, stopfte ich die Latexhandschuhe zusammen mit den Akten, die ich mir ausgeliehen hatte, in die Tasche. Ich konnte nur hoffen, daß ich keine Spuren hinterlassen hatte, die mich mit der Tat in Verbindung bringen würden, doch als ich im Erdgeschoß aus dem Lift stieg, bemerkte ich, daß mein Schuh auf dem Boden einen häßlichen braunen Fleck hinterlassen hatte. Irgendwie gelang es mir, das Gebäude erhobenen Hauptes zu verlassen, aber sobald der Wachmann mich nicht mehr sehen konnte, hastete ich um die Ecke. Ich schaffte es gerade noch in die schmale Seitenstraße, bevor sich Orangensaft und Kaffee aus meinem Magen verabschiedeten.
20
Jäger in der Mitte
Zu Hause schrubbte ich meine Schuhe wie eine Wahnsinnige, aber alle Chemie würde sie nicht säubern. Ich konnte es mir nicht leisten, sie einfach wegzuwerfen, mir jedoch auch nicht vorstellen, daß ich sie je wieder tragen würde.
Dann zog ich den Hosenanzug aus und sah mir jeden Quadratzentimeter unter einer starken Lampe genau an. Es schienen keine Reste von Fepple am Stoff zu sein, doch ich steckte den Anzug trotzdem zu den Sachen für die Reinigung.
Unterwegs hatte ich an einer Telefonzelle am Lake Shore Drive angehalten, um zu melden, daß sich im Gebäude der Hyde Park Bank eine Leiche befinde. In der
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