Ihr Wille Geschehe: Mitchell& Markbys Zehnter Fall
unablässig auf Gegenverkehr zu achten. Doch kein anderes Fahrzeug kam ihr entgegen, und sie begann sich zu fragen, ob die Straße weiter vorn unpassierbar geworden sein könnte. Sie führte an den Stehenden Steinen vorbei, und in jener Gegend, so erinnerte sie sich deutlich, lief permanent Wasser über die Straße. Vielleicht hatte das zusätzliche Regenwasser eine regelrechte Flut daraus werden lassen, was sie dazu zwingen würde umzukehren.
Das schlechte Licht spielte ihren Augen Streiche. Bäume am Straßenrand wirkten größer, als sie eigentlich waren, und die Zweige ragten bedrohlich dicht auf die Straße und den Wagen hinunter. Die Felder lagen in einem tristen Dunst. Ihr Zeitgefühl schien unter der eigenartigen Atmosphäre zu leiden, denn sie musste immer wieder auf die Uhr im Armaturenbrett sehen. Nirgendwo waren Tiere. Meredith fühlte sich unheimlich und allein und verspürte große Erleichterung, als ihre Scheinwerfer mitten auf der Straße vor ihr einen einsamen Fußgänger erfassten.
Seiner Kleidung nach war er ein Landbewohner, dem das Wetter nicht das Geringste auszumachen schien. Er trug eine wasserdichte Jacke, die ihm viel zu groß war, und hielt sie mit den Händen zusammen, als würde er darunter etwas verstecken. Auf dem Kopf trug er eine Wollmütze, die er sich bis über die Ohren gezogen hatte. Sie wusste nicht, woher er gekommen sein mochte, hier draußen, so weit entfernt von jeder Ansiedlung. Vielleicht von einer Farm. Sie tippte auf die Hupe, um ihn zu warnen.
Er hatte den sich nähernden Wagen hinter sich bereits gehört und machte Anstalten, zur Seite zu weichen. Als Meredith hupte, sprang er die Böschung hinauf. Er hatte etwas Verstohlenes, Schuldbewusstes an sich und bewegte sich weniger wie ein Mann, der dem Verkehr ausweicht, sondern eher wie jemand, der nicht gesehen werden will. Vielleicht ist er ein Wilddieb, überlegte Meredith.
Neugierig geworden, blickte sie in den Rückspiegel, als sie vorbei war, um die Gestalt von vorne zu sehen. Zur gleichen Zeit hob der Fußgänger den Kopf und sah dem Wagen hinterher.
Es war Kevin Berry. Er hatte sie ebenfalls erkannt. Als Meredith bremste, sprang er über eine niedrige Steinmauer und rannte über das dahinter liegende Feld davon. Meredith zögerte keinen Augenblick, sondern stieß die Wagentür auf und sprang nach draußen – mitten hinein in eine ausgedehnte Pfütze am Straßenrand. Sie stieß einen unterdrückten Fluch aus, zog die Füße aus dem Wasser und kletterte sehr unelegant den Hang hinauf, um Kevin zu folgen. Das hohe, nasse Gras streifte unangenehm um ihre Knöchel. Sie erreichte den Kamm und fand ihren Weg durch eine alte Trockensteinmauer versperrt. Sie war nicht so athletisch wie Kevin, deswegen suchte sie nach einer Lücke, in die sie ihren Fuß stecken konnte, um sich anschließend über die Krone zu ziehen. Kevin hatte inzwischen einen beträchtlichen Vorsprung und war bereits halb über das Feld hinweg. Er bewegte sich ungelenk über den weichen Boden und ruderte beim Laufen mit einem Arm, während der andere weiter die Jacke fest an den Leib gedrückt hielt und den Gegenstand darunter verbarg. Meredith legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief Kevins Namen, so laut sie konnte, doch der Wind wehte die Worte davon. Sie setzte zur Verfolgung an, wahrscheinlich ein vergebliches Unterfangen, doch falls es ihr gelang, ihm ein wenig näher zu kommen, würde er sie vielleicht hören können. Sie empfand eine persönliche Verantwortung für den Zustand des Jungen, und wenn sie schon nichts anderes für ihn tun konnte, so würde sie ihm wenigstens eine Mitfahrgelegenheit nach Hause anbieten, um ihm den weiten Weg durch Wind und Wetter zu ersparen. Der Untergrund war nicht fürs Laufen geschaffen. Beide rannten, so schnell sie konnten, ohne recht voranzukommen. Merediths Füße sanken immer wieder in Furchen und Löcher, und es war geradezu halsbrecherisch. Jeder Schritt nach vorn war ein Schritt in unbekanntes Terrain. Das Laufen verwandelte sich in eine Serie unkontrollierter Stolperschritte wie bei einem neugeborenen Lamm, das zum ersten Mal auf den wackligen Beinen stand. Die Anstrengung war schier unbeschreiblich. Ein- oder zweimal drehte sich Kevin nach ihr um. Er war unübersehbar in heller Panik. Jedes Mal rief Meredith seinen Namen und winkte ihm, doch er wandte sich ab und rannte weiter, als wäre der Teufel hinter ihm her. Meredith durfte ihn nicht mit seiner Angst alleine lassen. Sie musste ihm
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