Ihr Wille Geschehe: Mitchell& Markbys Zehnter Fall
Gegenstand zum Vorschein, den er so sorgsam zu verbergen getrachtet hatte. Meredith hatte im ersten Augenblick geglaubt, einen Wilderer vor sich zu haben, als sie Kevin im Licht ihrer Scheinwerfer auf der Straße entdeckt hatte, und ihr hätte bewusst sein müssen, dass Wilderer Waffen bei sich trugen. Meredith erstarrte. Kevin hielt ein Gewehr in der Hand, und der lange, schlanke Lauf glänzte in der Dunkelheit. Sie standen vielleicht drei Meter auseinander, und Meredith sah, dass es eine teure Waffe und ein aktuelles Modell war. Vermutlich hatte das Gewehr Ernie gehört; er war genau die Sorte Mann gewesen – wie Alan ganz richtig festgestellt hatte –, die einen Fernseher ohne Anmeldung oder einen Wagen ohne TÜV benutzte oder eben ein Gewehr ohne Waffenschein. Wildern war für einen Mann wie Ernie Berry wahrscheinlich ganz natürlich. Wahrscheinlich hatten die Berrys sich auf diese Weise ein hübsches Nebeneinkommen verschafft, nach der modernen, teuren Waffe zu urteilen, die leicht und zielgenau war. Kevin hielt das Gewehr in beiden Händen, und der Lauf war, wie Meredith erleichtert feststellte, nach unten gerichtet. Mit hoher, vor Angst verzerrter Stimme warnte er sie:
»Kommen Sie nicht näher!«
»Hören Sie, Kevin«, sagte Meredith so vernünftig, wie sie unter den gegebenen Umständen konnte, »Sie wissen, wer ich bin und dass ich Ihnen nichts tue. Es tut mir Leid, wenn ich Sie in Ihrem Cottage so erschreckt habe, aber Sie können beruhigt wieder nach Hause gehen. Ich weiß, dass Sie in unserer Küche waren und Mrs Carters Blumenbeet zerstört haben und dass Sie den Abbeizer über Mr Armitages Wagen geschüttet haben. Inspector Crane weiß es ebenfalls. Aber wir verstehen Sie. Wir wissen, dass Sie uns als Feinde betrachtet haben, welche Gründe Sie auch immer dafür hatten. Doch wir sind nicht Ihre Feinde, Kevin. Wir wollen Ihnen helfen, wir alle. Niemand will Ihnen etwas Böses. Es wird bereits spät, es ist dunkel und kalt hier draußen, und in der Nacht gibt es sicher noch einmal Regen. Mein Wagen steht unten an der Straße …« Unklugerweise hob sie die Hand, um in die Richtung zu zeigen, aus der sie gekommen war. Der Lauf des Gewehrs zuckte hoch.
»Kommen Sie ja nicht näher! Ich werde schießen!« Meredith konnte seinen hässlichen abgebrochenen Zahn sehen, wenn er sprach. Der Mantel, den er trug, war viel zu groß für ihn – und der Umfang verriet Meredith, dass er auf der Innenseite Wilderertaschen besaß.
»Ich möchte Ihnen doch nur helfen!«, wiederholte Meredith drängend. Kevin verzog das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse.
»Niemand hat mir je geholfen!«
»Uns allen ist bewusst, dass Sie um Ihren Vater trauern …«
»Er war nicht mein Vater!« Kevin stieß die Worte mit unerwarteter Heftigkeit hervor. Der Lauf des Gewehrs zuckte erneut, doch dann senkte er die Waffe zu Merediths unausgesprochener Erleichterung wieder. Er hat ganz vergessen, wurde ihr bewusst, dass er ein Gewehr in den Händen hält! Doch seine Worte machten sie neugierig.
»Ernie war nicht Ihr Vater? Es tut mir Leid, aber man hat mir gesagt, Ernie wäre … er wäre Ihr Vater.«
»Ich hatte nie einen Vater! Ich weiß nicht, wer mein Vater ist. Meine Mum war bereits mit mir schwanger, als sie bei Ernie einzog. Er hat es mir erzählt, immer und immer wieder hat er es mir gesagt, schon als ich noch ein kleiner Junge war, bis zum Ende, bis er tot war. ›Du bist ein Bastard, und niemand weiß, wer dein Vater ist!‹, das hat er immer wieder zu mir gesagt. Meine Mum hat mich mit zu ihm gebracht – und mich bei ihm zurückgelassen, als sie wegging!« In seiner Stimme lag so unendlich tiefer, trostloser Schmerz, als er Meredith die letzten Worte entgegenschleuderte, als all die Jahre eines verlassenen Kindes voller Verzweiflung und Einsamkeit ihren Ausdruck fanden, dass Meredith automatisch die Hände ausstreckte und auf ihn zutrat, um ihn zu trösten. Kevin wich augenblicklich vor ihr zurück.
»Bleiben Sie stehen!«, warnte er sie.
»Ich bleibe stehen, Kevin. Tun Sie das Gewehr weg.« Er grinste wild, und ein verwegener Ausdruck stahl sich auf sein Gesicht.
»Nein. Nein, ich sage jetzt, was gemacht wird, richtig? Ich gebe die Befehle, und Sie tun, was ich sage. Ich hab noch nie die Befehle gegeben. Ich war immer nur Berrys Junge. Er hat mich wie Dreck behandelt, Ernie. Er hat mich durch das ganze Haus geprügelt, nur so zum Spaß, als ich noch ein kleiner Bengel war, ohne jeden Grund! Er mochte mich
Weitere Kostenlose Bücher