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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ihren Bestimmungsort bringen, ohne dass er und sein Freund von den Streitwagenleuten entdeckt und vernichtet wurden?
    Zerbrich dir darüber den Kopf, wenn du die Lady an Land gebracht und Orphu aus dem Laderaum geholt hast, dachte er. Eins nach dem anderen. Am blauen Himmel war nichts Gefährliches zu sehen, aber er fühlte sich schrecklich ungeschützt, während das U-Boot weiter südwärts durch die Wellen schnitt. Zu Orphu sagte er: »Hat dein Freund Proust einen Rat?«
    Orphu räusperte sich rumpelnd:
     
    Doch auch das Alter hat Geschäft und Ehre!
    Der Tod schließt alles: aber vorher, Freunde,
    Kann etwas Edles, Großes noch getan sein …
    Noch ist es Zeit, nach einer neuern Welt uns umzusehn …
    Viel ist gewonnen – viel bleibt übrig! Sind
    Wir auch die Kraft nicht mehr, die Erd und Himmel
    Vordem bewegte: – was wir sind, das sind wir!
    Ein einziger Wille heldenhafter Herzen,
    Durch Zeit und Schicksal schwach gemacht, doch stark
    Im Ringen, Suchen, Finden, Nimmerweichen!
     
    »Du willst mir doch nicht erzählen wollen, dass das von Proust ist«, sagte Mahnmut. Der Dunst im Süden löste sich auf.
    »Nein«, sagte Orphu. »Das ist aus Tennysons Ulysses.«
    »Wer ist Ulysses?«
    »Odysseus.«
    »Wer ist Odysseus?«
    Ein schockiertes Schweigen folgte. Schließlich sagte Orphu: »O je, mein Freund, diese Lücke in deiner ansonsten ausgezeichneten Bildung schreit geradezu danach, geschlossen zu werden. Es könnte durchaus sein, dass wir so viel wie möglich über …«
    »Warte mal«, sagte Mahnmut. Und gleich darauf: »Warte mal!«
    »Was ist?«
    »Land«, sagte Mahnmut. »Ich sehe Land.«
    »Sonst noch was? Irgendwelche Einzelheiten?«
    »Ich schalte auf stärkere Vergrößerung.«
    Orphu wartete, aber schließlich fragte er: »Und?«
    »Die Steingesichter«, sagte Mahnmut. »Ich sehe die Steingesichter – meist oben auf den Klippen –, sie erstrecken sich nach Osten, so weit das Auge reicht.«
    »Nur nach Osten? Nicht auch nach Westen?«
    »Nein. Die Reihe der Gesichter endet fast genau dort, wo wir das Festland erreichen würden. Dort bewegt sich etwas. Hunderte von Menschen – oder was auch immer – laufen auf den Klippen und am Strand entlang.«
    »Wir sollten lieber tauchen und auf die Dunkelheit warten, bevor wir an Land gehen«, sagte Orphu. »Und dann suchen wir uns eine Meereshöhle oder etwas dergleichen, wo du die Lady ungesehen hereinbringen kannst und wo …«
    »Zu spät«, unterbrach ihn Mahnmut. »Unser Sauerstoff und unsere Antriebsenergie reichen höchstens noch für vierzig Minuten. Außerdem haben die Gestalten – die Menschen – aufgehört, die Steingesichter nach Westen zu schleppen. Sie kommen zu Hunderten zum Strand herunter. Sie haben uns gesehen.«
     

21
Ilium
    Ich könnte Ihnen erzählen, wie es ist, mit Helena von Troja zu schlafen. Aber ich werde es nicht tun. Und nicht nur, weil es äußerst unfein von mir wäre. Die näheren Einzelheiten gehören einfach nicht zu meiner Geschichte. Aber es entspricht der Wahrheit, wenn ich sage: Hätte die rachsüchtige Muse oder die wütende Aphrodite mich gefunden, kurz nachdem Helena und ich uns das erste Mal geliebt hatten, also etwa eine Minute, nachdem wir uns auf den schweißfeuchten Laken voneinander gelöst hatten, um Atem zu schöpfen und uns von der kühlen Brise umfächeln zu lassen, die dem Gewitter vorausging, und wären die Muse und die Göttin dann eingedrungen und hätten mich getötet – das kurze zweite Leben des Thomas Hockenberry, so viel kann ich Ihnen sagen, ohne befürchten zu müssen, mir zu widersprechen, wäre ein glückliches gewesen. Und hätte zumindest auf einem hohen Ton geendet.
    Eine Minute nach diesem Augenblick der Vollendung hielt mir die Frau einen Dolch an den Bauch.
    »Wer bist du?«, wollte Helena wissen.
    »Ich bin dein …«, begann ich und brach dann ab. Etwas in Helenas Blick veranlasste mich, die Lüge, ich sei Paris, gar nicht erst auszusprechen.
    »Wenn du behauptest, du seist mein neuer Gatte, muss ich dir diese Klinge in den Bauch stoßen«, sagte sie ruhig. »Falls du ein Gott bist, macht dir das wohl kaum etwas aus. Aber wenn nicht …«
    »Ich bin keiner«, brachte ich heraus. Die Spitze des Messers ritzte mir die Haut über dem Bauch, sodass ein Blutstropfen hervortrat. Wo kam dieses Messer her? Hatte es unter den Kissen gelegen, während wir uns geliebt hatten?
    »Wenn du kein Gott bist, wie hast du dann Paris’ Gestalt annehmen können?«
    Mir wurde klar, dass ich es mit

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