Ilium
mir zu, Hock-en-bär-iihh. Wenn du unser Schicksal ändern willst, musst du den Angelpunkt finden. Und damit meine ich nicht das, wohin du gerade strebst.«
Es ist schwierig, aber ich halte lange genug inne, um ihr zuzuhören.
Anderthalb Stunden später schlendere ich, angetan mit meiner üblichen Scholikerausrüstung, in Gestalt eines thrakischen Lanzenkämpfers durch die Straßen. Die Sonne ist aufgegangen, und die Stadt erwacht allmählich zu regem Leben – Menschen drängen sich auf den Straßen, Marktstände werden geöffnet und Tiere durch Gassen getrieben, Kinder laufen umher, und großspurig einherstolzierende Krieger brechen ihr Fasten, bevor sie zum Töten hinausgehen.
In der Nähe des Marktplatzes finde ich Nightenhelser – gemorpht zu einem dardanischen Wachposten, aber dank meiner Linsen erkenne ich ihn. Er frühstückt gerade in einem Straßenwirtshaus, das wir beide häufig besucht haben. Er blickt auf und erkennt mich.
Ich fliehe nicht und verschwinde auch nicht mit Hilfe des Hades-Helms. Ich setze mich zu ihm an den Tisch unter einem niedrigen Baum und bestelle Brot, getrockneten Fisch und Obst zum Frühstück.
»Unsere Muse hat Sie heute vor Sonnenaufgang in der Kaserne gesucht«, sagt der korpulente Nightenhelser. »Und dann auch hier bei den Mauern. Sie hat namentlich nach Ihnen gefragt. Offenbar will sie Sie unbedingt finden.«
»Haben Sie Angst, mit mir gesehen zu werden? Soll ich weitergehen?«
Nightenhelser zuckt die Achseln. »Wir Scholiker leben sowieso alle von geborgter Zeit. Was spielt es für eine Rolle? Tempus edax rerum.«
Ich denke schon so lange auf Altgriechisch, dass ich eine Sekunde brauche, um das Latein zu übersetzen. Die Zeit verschlingt alles. Mag sein, aber ich will mehr davon. Ich breche das frische, warme Brot und esse, staune – über seinen herrlichen Geschmack und den des süßen Frühstücksweins. Alles wirkt, riecht und schmeckt heute Morgen frischer, sauberer, neuer und wunderbarer. Vielleicht liegt es am Regen in dieser Nacht. Vielleicht auch an etwas anderem.
»Sie riechen heute Morgen verdächtig nach Parfüm«, meint Nightenhelser.
Zuerst erröte ich nur – kann der andere Scholiker die Freuden der Nacht an mir riechen? –, aber dann wird mir klar, wovon er spricht. Helena hatte darauf bestanden, dass ich mit ihr badete, bevor ich ging. Die alte Sklavin, die dafür gesorgt hatte, dass heißes Wasser ins Bad gebracht wurde, war Aithra, wie ich erfuhr, Tochter des Pittheus, Gemahlin von König Aigeus und Mutter des berühmten Theseus – Herrscher Athens und der Mann, der Helena geraubt hatte, als sie elf gewesen war. Ich erinnerte mich aus meiner Studienzeit an Aithras Namen, aber mein Professor, Dr. Fertig, ein hervorragender Homer-Kenner, hatte steif und fest behauptet, dieser sei aufs Geratewohl aus dem epischen Fundus gewählt worden – »Aithra, Tochter des Pittheus« habe für Homer oder irgendeinen dichtenden Vorgänger, der einen Namen für eine bloße Sklavin gebraucht habe, wohl gut geklungen, sagte Dr. Fertig, und die Mutter des edlen Theseus könne unmöglich Helenas Sklavin in Troja gewesen sein. Tja … falsch, Dr. Fertig. Gerade erst vor einer halben Stunde, als ich mich mit der nackten Helena in der eingelassenen Marmorwanne räkelte, erwähnte sie, dass die alte Sklavin Aithra in der Tat Theseus’ Mutter war … Helenas Brüder Kastor und Polydeukes hatten Helena aus Theseus’ Gefangenschaft befreit und die alte Dame zur Strafe mitgenommen, und Paris hatte sie dann zusammen mit Helena nach Troja gebracht.
»Na, woran denken Sie gerade, Hockenberry?«, fragt Nightenhelser.
Ich erröte erneut. Soeben habe ich an den Anblick von Helenas weichen Brüsten durch die Sprudelblasen im Bad gedacht. Ich esse etwas Fisch und sage: »Ich war gestern Abend nicht auf dem Feld. Ist irgendwas Interessantes passiert?«
»Nicht viel. Nur Hektors großes Duell mit Ajax. Nur die entscheidende Kraftprobe, auf die wir warten, seit der Bug der achäischen Schiffe damals das Ufer berührt hat. Nur der komplette siebente Gesang.«
»Ach, das«, sage ich. Der siebente Gesang ist ein spannendes Duell zwischen Hektor und dem achäischen Riesen, aber es passiert nichts. Keiner der beiden verletzt den anderen, obwohl Ajax offenkundig der bessere Kämpfer ist, und als es abends zu dunkel zum Kämpfen wird, rufen Ajax und Hektor einen Waffenstillstand aus, tauschen miteinander einen Leibgurt gegen ein Schwert, und beide Seiten machen sich wieder daran,
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