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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ihre Toten zu verbrennen. Ich habe nichts Entscheidendes verpasst; nichts, wofür es sich gelohnt hätte, auch nur auf eine Minute mit Helena zu verzichten.
    »Etwas war allerdings merkwürdig«, sagt Nightenhelser. Ich kaue Brot und warte.
    »Sie wissen doch, dass Hektor zusammen mit seinem Bruder, Paris, aus der Stadt kommen sollte, und dann sollten die beiden die Trojaner wieder in die Schlacht führen. Homer zufolge tötet Paris zu Beginn des Kampfes Menesthios.«
    »Ja?«
    »Und später, erinnern Sie sich, als Antenor, König Priamos’ Berater, seinen Trojanern rät, Helena und alle in Argos erbeuteten Güter zurückzugeben und die Achäer in Frieden abziehen zu lassen?«
    »Das tut er, während Ajax und Hektor Freunde sind, nachdem sie es nicht geschafft haben, einander umzubringen, und auf dem Feld Geschenke ausgetauscht haben, richtig?«
    »Ja.«
    »Und, was ist damit?«
    Nightenhelser stellt seinen Becher hin. »Tja, Paris hätte Antenor antworten und seine trojanischen Kampfgefährten drängen müssen, Helenas Auslieferung zu verweigern, aber die Schätze herzugeben, wenn dann wieder Frieden einkehrt.«
    »Und?« Mir wird klar, worauf das hinausläuft. Ich habe auf einmal ein flaues Gefühl im Magen.
    »Na ja, Paris erschien gestern Abend nicht – er ist nicht mit Hektor durchs skäische Tor herausgekommen, er hat Menesthios nicht getötet, und er hat bei Einbruch der Dunkelheit auch kein Friedensangebot gemacht.«
    Ich nicke und kaue. »Und?«
    »Also, das ist eine der größten Diskrepanzen, die wir bisher erlebt haben, stimmt’s, Hockenberry?«
    Ich zucke die Achseln. »Ich weiß nicht. Im siebenten Gesang bauen die Achäer ihren Schutzwall samt Graben in der Nähe des Ufers, aber wir beide wissen, dass diese Anlage seit dem ersten Monat nach ihrer Ankunft dort steht. Homer bringt öfter mal die Chronologie durcheinander.«
    Nightenhelser sieht mich an. »Vielleicht. Aber es war schon seltsam, dass Paris nicht da war, um Antenors Vorschlag zur Rückgabe Helenas abzulehnen. Schließlich hat König Priamos für seinen Sohn gesprochen – er hat gesagt, Paris werde die Frau garantiert niemals hergeben, den Schatz aber vielleicht schon. Da Paris selbst nicht da war, hat Antenor in der Menge viel zustimmendes Gemurmel geerntet. So nah war der Friede noch nie in all den Jahren, die ich nun hier bin, Hockenberry.«
    Meine Haut fühlt sich kalt an. Meine hemmungslose Nacht mit Helena, meine lange Verkörperung von Paris haben schon eine wichtige Änderung im Strom der Dinge zur Folge gehabt. Würde die Muse die Ilias in allen Einzelheiten kennen – was nicht der Fall ist –, hätte sie sofort gewusst, dass ich Paris’ Platz im Bett bei Helena eingenommen habe.
    »Haben Sie der Muse die Diskrepanz gemeldet?«, frage ich leise. Nightenhelsers Schicht muss bei Einbruch der Dunkelheit zu Ende gewesen sein. Da ich nicht da war, hatte er als einziger Scholiker am vergangenen Abend Dienst. Es wäre seine Pflicht gewesen, solche Merkwürdigkeiten zu melden.
    Nightenhelser kaut langsam sein letztes Stück Brot. »Nein«, antwortet er schließlich, »das habe ich dem Wortstein nicht diktiert.«
    Ich stoße den Atem aus. »Danke.«
    »Wir sollten lieber gehen«, sagt er. Das Wirtshaus füllt sich mit trojanischen Männern und ihren Frauen, die auf einen Sitzplatz warten. Während ich Münzen auf den Tisch lege, packt Nightenhelser mich am Unterarm. »Wissen Sie, was Sie tun, Hockenberry?«
    Ich schaue ihm in die Augen. Meine Stimme ist fest, als ich antworte. »Ganz und gar nicht.«
     
    Auf der Straße entfernen wir uns in entgegengesetzte Richtungen. Ich biege in eine leere Gasse ein, setze die Kapuze des Hades-Helms auf und berühre das QT-Medaillon.
    Auf dem Gipfel des Olymps geht gerade die Sonne auf. Die weißen Gebäude und grünen Rasenflächen reflektieren das helle, aber schwächere Licht hier. Ich habe mich immer gefragt, weshalb die Sonne auf dem Olymp und in seiner Umgebung kleiner wirkt als im Himmel über Ilium.
    Ich hatte mir den Abstellplatz für die Streitwagen in der Nähe des Hauses der Muse vorgestellt, und dort bin ich angekommen. Ich halte die Luft an, als ein Streitwagen spiralförmig aus dem Morgenhimmel herabkommt und keine sechs Meter entfernt landet, aber Apollo steigt aus und marschiert davon, ohne mich zu bemerken. Der Hades-Helm funktioniert also noch.
    Ich steige in den Streitwagen und berühre die vorn angebrachte Bronzetafel. Ich habe der Muse aufmerksam zugesehen, als wir neulich

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