Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
und lasse die Schwärze über mich wegspülen.
     

22
Die Küste von Chryse Planitia
    »Ich habe meinen Freund, Orphu von Io, getötet«, erklärte Mahnmut William Shakespeare.
    Die beiden spazierten durch Wohnviertel am Themseufer. Mahnmut wusste, dass es der Spätsommer 1592 a. D. war, aber er hatte keine Ahnung, woher er das wusste. Auf dem Fluss wimmelte es von Lastkähnen, Ewern und Flussbooten mit niedrigen Masten. Hinter den Gebäuden im Tudorstil und den baufälligen Mietshäusern am Nordufer erhoben sich Londons zahlreiche Kirch- und ein paar andere schiefe Türme. Ein heißer Dunst hing über dem Fluss und hinter den Slums auf beiden Seiten.
    »Ich hätte Orphu retten sollen, aber ich konnte es nicht«, sagte Mahnmut. Er musste sich beeilen, um mit dem Dramatiker Schritt zu halten.
    Shakespeare war ein stämmiger Endzwanziger mit leiser Stimme und würdevollerer Kleidung, als Mahnmut bei einem Schauspieler und Bühnenautor erwartet hätte. Das Gesicht des jungen Mannes war ein spitzes Oval mit bereits zurückweichendem Haaransatz, Koteletten, dem Anflug eines Bartes und dünnem Schnurrbart – als ob Shakespeare zaghaft mit einem dauerhafteren Bart experimentierte. Er hatte braune Haare, seine Augen waren graugrün, und er trug ein schwarzes Wams, unter dem der breite, weiche Kragen eines weißen Hemdes zu sehen war, von dem weiße Zugschnüre herabhingen. Im linken Ohr des Schriftstellers steckte ein kleiner goldener Ring.
    Mahnmut wollte Shakespeare tausend Fragen stellen – was schrieb er gerade?, wie lebte es sich in dieser Stadt, die bald von der Pest heimgesucht werden würde?, wie sah die verborgene Struktur der Sonette aus? –, aber er konnte nur über Orphu reden.
    »Ich habe versucht, ihn zu retten«, erklärte Mahnmut. »Der Reaktor der Dark Lady hat sich abgeschaltet, und weniger als fünf Kilometer vor der Küste waren dann auch die Batterien leer. Ich suchte eine Zufahrt zu einer der vielen Höhlen in den Klippen – irgendein Versteck für das U-Boot.«
    »Dark Lady?«, fragte Shakespeare. »Ist das der Name deines Schiffes?«
    »Ja.«
    »Bitte sprich weiter.«
    »Orphu und ich unterhielten uns gerade über die Steingesichter«, sagte Mahnmut. »Es war Nacht – wir näherten uns der Küste bei Nacht, im Schutz der Dunkelheit, aber ich benutzte das Nachtsichtgerät und beschrieb ihm die Gesichter. Er war noch am Leben. Das Schiff lieferte gerade genug O 2 für ihn.«
    »O 2 ?«
    »Luft«, erklärte Mahnmut. »Wie gesagt, ich beschrieb ihm die großen Steinköpfe …«
    »Große Steinköpfe? Statuen?«
    »Ungefähr zwanzig Meter hohe Steinmonolithe.«
    »Hast du das Gesicht der Statuen erkannt? War es jemand aus deinem Bekanntenkreis, oder vielleicht ein berühmter König oder Eroberer?«
    »Sie waren zu weit entfernt, als dass ich hätte Einzelheiten der Gesichter erkennen können«, sagte Mahnmut.
    Sie waren zu einer breiten Brücke mit vielen Bögen gelangt, die mit dreistöckigen Gebäuden bebaut war. Eine etwa vier Meter breite Passage führte zwischen den Bauten hindurch wie eine Straße durch einen Tunnel. Ein buntes Gemisch von Fußgängern wich gerade einer Schafherde aus, die nordwärts in die Stadt getrieben wurde. Entlang dieser Passage waren überall Menschenköpfe auf Pfähle gespießt – manche vertrocknet und mumifiziert, einige fast schon Totenschädel, an denen noch ein paar Haarbüschel oder verweste Hautfetzen hingen, andere so schockierend frisch, dass ihre Wangen oder Lippen noch gerötet waren.
    »Was ist das?«, fragte Mahnmut. Seinen organischen Teilen wurde es schlecht.
    »London Bridge«, sagte Shakespeare. »Erzähl mir, was mit deinem Freund geschehen ist.«
    Mahnmut, der es leid war, immer zu dem Stückeschreiber aufzublicken, hüpfte auf eine Steinmauer, die als Geländer diente. Im Osten sah er einen abweisenden Turm; vermutlich war es der Turm aus Richard III. Mahnmut wusste, dass er entweder träumte oder selbst gerade an Sauerstoffmangel starb, und darum wollte er nicht, dass dieser Traum endete, bevor er Shakespeare ein oder zwei Fragen gestellt hatte. »Habt Ihr schon angefangen, Eure Sonette zu schreiben, Master Shakespeare?«
    Der Stückeschreiber lächelte und blickte auf die stinkende Themse hinaus, drehte sich dann um und schaute auf die nicht weniger übel riechende Stadt. Überall waren ungeklärte Abwässer, im Uferschlamm verwesten die Kadaver von Pferden und Rindern, und ein wüstes Effluvium blutiger Hühnerteile ergoss sich aus offenen

Weitere Kostenlose Bücher