Ilium
Orphu tot oder am Leben war. Der Ionier lag reglos auf dem roten Sandstrand wie ein von Stürmen beschädigter, übergroßer Trilobit, der in einem der dunklen, prähistorischen Zeitalter der Erde an Land gespült worden war.
Mahnmut holte die Ausrüstungsgegenstände, die er aus der Dark Lady geborgen hatte, aus seinem Rucksack und seinen wasserfesten Taschen. Zwischendurch hielt er immer wieder Ausschau nach fliegenden Streitwagen; er rechnete jeden Moment damit, einen am Himmel zu sehen. Zuerst legte er fünf der kleinen, aber schweren Energiezellen hin, hängte sie hintereinander und schloss das Kabel an einem von Orphus noch funktionierenden Eingängen an. Der große Ionier zeigte keine Reaktion, aber der virtuelle Indikator zeigte, dass die Energie irgendwohin floss. Anschließend krabbelte Mahnmut auf Orphus gekrümmten Panzer – er staunte, als er die physischen Schäden hier im starken Morgenlicht zum ersten Mal deutlich sah – und schraubte den Funkempfänger in die Festleitungsbuchse. Er testete die Verbindung, hörte das Summen einer Trägerwelle und schaltete sein Mikrofon ein.
»Orphu?«
Keine Antwort.
»Orphu?«
Stille. Die zahllosen kleinen grünen Männchen schauten ihm zu.
»Orphu?«
Mahnmut versuchte fünf Minuten lang, eine Antwort von Orphu zu erhalten. Er rief ihn alle zwanzig Sekunden auf sämtlichen Kommunikationsfrequenzen und prüfte immer wieder die Anschlüsse des Empfängers. Die Kommunikationseinheit empfing seine Sendungen. Orphu reagierte nicht.
»Orphu?«
Genau genommen war es nicht still. Über seine Außenempfänger hörte Mahnmut mehr Umweltgeräusche als jemals zuvor in seinem Leben: das Plätschern der Wellen gegen den Strand, das Zischen des Windes an der Klippe hinter ihm, die leisen Bewegungen der kleinen grünen Männchen, die hin und wieder ihre Position wechselten, und die tausend Nuancen von Vibrationen in einer derart dichten planetaren Atmosphäre. Nur die Leitung und Orphu waren tot.
»Orphu?« Mahnmut warf einen Blick auf sein Chronometer. Er war nun schon eine halbe Stunde am Werk. Widerstrebend rutschte er in Zeitlupe vom Panzer seines Freundes herunter, ging fünfzehn Schritte den Strand entlang und setzte sich in den nassen Sand, wo das Wasser hereinrollte. Die kleinen grünen Männchen machten ihm Platz und umringten ihn dann wieder in respektvollem Abstand. Mahnmut sah sie an – eine Wand winziger grüner Körper, ausdrucksloser Gesichter und unverwandt starrender schwarzer Augen.
»Habt ihr alle nichts zu tun?«, fragte er. Selbst für seine eigenen akustischen Rezeptoren klang seine Stimme seltsam erstickt. Vielleicht lag es an der Akustik der Marsatmosphäre.
Die KGMs rührten sich nicht. Der zerschmetterte Steinkopf lag am Fuß der Klippe, aber sie beachteten ihn nicht. Ein Dutzend Seile führten noch zum U-Boot hinaus, das reglos in der niedrigen, rollenden Brandung lag.
Auf einmal spülte eine unermesslich tiefe Woge des Verlusts und des Heimwehs über Mahnmut hinweg. In den drei Jupiterdekaden – über dreihundert Marsjahren – seines Daseins hatte er drei enge Beziehungen gehabt. Erstens zur Dark Lady, einer zwar nur halb empfindungsfähigen Maschine, für die er jedoch konstruiert war und in die er perfekt hineinpasste; die Lady war tot. Zweitens zu seinem Forschungspartner Urtzweil, der vor achtzehn J-Jahren – Mahnmuts halber Lebenszeit – ums Leben gekommen war. Und jetzt zu Orphu.
Hier war er nun, aberhundert Millionen Kilometer von seiner Heimat entfernt, allein, nicht geeignet, nicht ausgebildet und nicht vorbereitet für diese Mission, mit der man ihn betraut hatte. Wie sollte er die rund 5000 Kilometer zum Olympus Mons zurücklegen, um den Apparat dort zu platzieren? Und selbst wenn er es schaffte, was dann? Koros III. hatte vielleicht gewusst, was er dort tun musste, worum es bei dieser Mission wirklich ging, aber der unwichtige Mahnmut, ehemals beheimatet in der Dark Lady, hatte nicht den blassesten Schimmer.
Hör auf, dich in Selbstmitleid zu ergehen, du Dummkopf, dachte er. Mahnmut warf den KGMs einen Blick zu. Es war bestimmt eine Illusion, dass sie niedergeschlagen, ja sogar traurig wirkten. Den Tod eines ihrer eigenen Leute hatten sie nicht betrauert; wie sollten sie dieses Gefühl dann beim Ende eines Moravecs zeigen, einer empfindungsfähigen Maschine, die jenseits ihres Vorstellungsvermögens existierte?
Mahnmut wusste, dass er wieder mit den kleinen grünen Männchen kommunizieren musste, aber der Gedanke, einem
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