Ilium
mich für einen geistig minderbemittelten Sklaven, der für seine Dummheit zu Recht tüchtig ausgepeitscht worden war, und ließen mich passieren.
Priamos’ Palast war groß – er hatte fünfzig Gemächer, eines für jeden der fünfzig Söhne des Priamos –, und er wurde von den allerbesten Kämpfern Trojas bewacht. An sämtlichen Toren und vor jedem Fenster auf Straßenhöhe standen wachsame Posten, und andere hielten in den Höfen und auf den Mauern des Palasts Wache – hier würden mich keine schläfrigen Wächter müßig vorbeiwinken, ganz gleich, wie spät es war, wie blutig meine Striemen waren oder wie idiotisch ich grunzte. Also begab ich mich ein paar Blocks weiter südlich zu Helenas Haus, das ebenso gut bewacht war, aber nicht mehr ganz so gut, nachdem ich den zweiten Trojaner in dieser Nacht erstochen und seine Leiche versteckt hatte, so gut es ging.
Nach Paris’ Tod bei einem Bogenschützen-Duell war Helena einem anderen Sohn des Priamos, Deiphobos, zur Frau gegeben worden. Die Einwohner Iliums nannten ihn ›Verjager der Feinde‹, die Achäer auf dem Schlachtfeld hingegen ›Ochsenarsch‹, aber ihr neuer Gemahl war in dieser Nacht nicht daheim, und Helena schlief allein. Ich weckte sie.
Ich glaube nicht, dass ich Helena getötet hätte, wenn sie um Hilfe geschrien hätte – ich kannte sie seit vielen Jahren als Gast in Menelaos’ vornehmem Hause, wisst ihr, zuvor jedoch auch als einer ihrer ersten Freier nach ihrer Ehemündigkeit, wenn auch nur aus formellen Gründen, weil ich zu jener Zeit glücklich mit Penelope verheiratet war. Ich hatte Tyndareos den Rat gegeben, die Freier schwören zu lassen, dass sie sich Helenas Wahl fügen würden, um auf diese Weise Blutvergießen wegen der schlechten Manieren der Verlierer zu vermeiden. Ich glaube, Helena war mir immer dankbar für diesen Rat.
Sie schrie nicht um Hilfe in jener Nacht, in der ich sie in ihrem Heim in Ilium aus unruhigem Schlaf weckte. Sie erkannte mich sofort, umarmte mich und wollte wissen, wie es ihrem wahren Gatten, Menelaos, und ihrer so weit entfernten Tochter ging. Ich erklärte ihr, alle seien wohlauf, verschwieg ihr jedoch, dass Menelaos auf dem Schlachtfeld bereits zwei schwere und ein halbes Dutzend leichte Verletzungen davongetragen hatte, unter anderem auch durch den Pfeil, der ihn gerade in die Hüfte getroffen hatte, und in verdrießlicher Stimmung war. Stattdessen erzählte ich ihr, wie sehr ihr Gemahl, ihre Tochter und ihre Familie in Sparta sie vermissten und sich nach ihrer Rückkehr sehnten, und dass sie ihr alles Gute wünschten.
Da lachte Helena. ›Mein Herr und Gemahl Menelaos wünscht mir den Tod, und das weißt du, Odysseus‹, sagte sie. ›Und ich bin sicher, er wird die Tat selbst vollbringen, wenn Iliums gewaltige Mauern und das skäische Tor demnächst fallen, wie Kassandra prophezeit hat.‹
Ich kannte dieses Orakel nicht – Delphi und Pallas Athene sind die einzigen Seherinnen der Zukunft, denen ich mein Ohr leihe –, aber ich konnte ihr nicht widersprechen; es war durchaus möglich, dass Menelaos ihr nach all den bitteren Jahren ihrer Treulosigkeit in den Armen und Betten seiner Feinde tatsächlich den Hals durchschneiden würde. Aber das sagte ich Helena nicht. Stattdessen erklärte ich ihr, dass ich mich bei Menelaos, dem Sohn des Atreus, für sie verwenden und ihn dazu überreden würde, ihr Leben zu schonen, wenn sie mich in dieser Nacht nicht verraten, sondern mir helfen würde, einen Weg in Priamos’ Palast zu finden und das echte Palladion zu erkennen.
›Ich würde dich ohnehin nicht verraten, Odysseus, Sohn des Laertes, mein treuer und listiger Ratgeber‹, sagte Helena. Und dann erklärte sie mir, wie ich die Schutzvorkehrungen des Palastes überwinden und woran ich das echte Palladion erkennen konnte, wenn ich es inmitten seiner Nachbildungen sah.
Aber der Tag brach fast schon an. Es war zu spät, um meine Mission noch in dieser Nacht zu vollenden. Also nutzte ich die Lücken, die die von mir getöteten Wachposten hinterlassen hatten, und stahl mich auf demselben Weg, den ich hergekommen war, wieder aus der Stadt. Am nächsten Tag schlief ich lang, badete, aß und trank und bat dann Machaon, den Sohn des Asklepios und besten Heiler in Diensten des Heeres, eine Heilsalbe auf meine Peitschenwunden aufzulegen und sie zu verbinden.
Am Abend weihte ich Diomedes in meinen Plan ein, weil ich wusste, dass ich einen Verbündeten brauchen würde; ich konnte schließlich nicht kämpfen und
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