Ilium
Vororte oder neuer Teile der alten ummauerten Stadt, die sich nun in eine ansteigende Fläche verwandelt hatten, gepflastert mit zertrümmerten und kieselfein gemahlenen Steinen. Savi führte sie durch ein Tor in der Mauer und erzählte ihnen unterwegs irgendwelches großenteils bedeutungsloses Zeug. Die Luft war trocken und kühlte bereits ab; das fast waagrecht einfallende Sonnenlicht lag satt auf den uralten Gebäuden.
»Dies nannte man das Jaffa-Tor«, erklärte sie, als würde ihnen das etwas sagen. »Das ist die David-Straße, die das christliche Viertel vom armenischen trennte.«
Harman warf Daeman einen Blick zu. Offensichtlich hatte selbst der gebildete alte Mann, der so stolz auf seine nutzlose Lesefähigkeit war, die Worte »christlich« oder »armenisch« noch nie gehört. Aber Savi plapperte weiter, zeigte ihnen ein Bauwerk namens Grabeskirche in dem Trümmerfeld zu ihrer Linken, und keiner der beiden Männer unterbrach sie mit einer Frage, bis Daeman sich schließlich erkundigte: »Gibt es hier keine Voynixe oder Servitoren?«
»Heutzutage nicht mehr«, sagte Savi. »Aber als meine Freunde Pinchas und Petra vor vierzehnhundert Jahren hier waren, in den letzten Minuten vor dem letzten Fax, waren plötzlich Zehntausende Voynixe in der Nähe der Westmauer aktiv. Ich habe keine Ahnung, warum.« Sie blieb stehen und sah sie beide an. »Ihr wisst doch, dass die Voynixe zweihundert Jahre vor dem letzten Fax aus der temporalklastischen Wolke herausgekommen sind, nicht wahr? Damals waren sie allerdings unbeweglich – Statuen aus Rost und Eisen –, nicht die gehorsamen Diener, die ihr jetzt habt. Es ist wichtig, sich das ins Gedächtnis zu rufen.«
»In Ordnung«, sagte Harman, doch in seinem Ton lag eine Spur Herablassung. Sie redete wirres Zeug. »Aber du hast gesagt, beim letzten Fax seist du in einem Eisberg in der Nähe der Antarktis gewesen«, fuhr er fort. »Woher weißt du, wo deine Freunde waren und was die Voynixe gemacht haben?«
»Farnet-, Proxnet- und Allnet-Aufzeichnungen«, sagte die alte Frau. Sie drehte sich um und führte sie weiter nach Osten, die Straße entlang.
Harman warf Daeman erneut einen Blick zu, als wollte er seine Besorgnis über ihr unsinniges Geschwätz mit ihm teilen, aber Daeman verspürte eine Anwandlung von – ja was? Stolz? Überlegenheit? –‚ als ihm klar wurde, dass er genau wusste, was sie mit Farnet und Proxnet meinte. Er blickte auf seine Handfläche und rief die Suchfunktion auf, aber die leuchtende Wolke war leer. Was würde passieren, fragte er sich, wenn er sich vier blaue Rechtecke, darunter drei rote Kreise und darunter wiederum vier grüne Dreiecke vorstellte, um die Volldatenfunktion aufzurufen, so wie sie es ihm gestern auf der Waldlichtung beigebracht hatte?
Savi blieb stehen. »Du solltest die Allnet-Funktion hier lieber nicht aufrufen, Daeman«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Hier in Jerusalem wäre es kein virtuelles Eintauchen in Energie-Mikroklima-Interaktionen wie im Wald. Sondern du bekämst es mit fünftausend Jahren Schmerz, Schrecken und virulentem Antisemitismus zu tun.«
»Antisemitismus?«, wiederholte Harman.
»Judenhass«, sagte Savi.
Harman und Daeman sahen einander fragend an. Der Begriff ergab für sie keinen Sinn.
Daeman bereute es allmählich, dass er seine Meinung geändert hatte und mitgekommen war. Er hatte Hunger. Hinter ihnen ging die Sonne unter. Er wusste nicht, wo er diese Nacht schlafen würde, aber er rechnete nicht mit einer bequemen Bettstatt.
»Kommt«, sagte Savi und führte sie noch einen Block weiter, durch steinerne Torwege, eine enge Gasse und auf einen Platz hinaus, der von einer hohen, leeren Mauer beherrscht wurde.
»Das sollten wir uns anschauen?«, sagte Daeman enttäuscht. Es war eine Sackgasse – ein Hof, umgeben von niedrigeren Mauern, Steinbauten und dieser einen hohen Mauer, über der so etwas wie ein rundes metallisches Gebilde hervorlugte. Es gab keine Möglichkeit, von hier aus dort hinaufzugelangen.
»Nur Geduld«, sagte Savi. Sie blinzelte in die untergehende Sonne. »Und heute ist Tischa b’Aw, genau wie am Tag des letzten Faxes.«
Harman sah aus, als hätte er es satt, unsinnige Silben zu wiederholen. »Tischa b’Aw?«
»Der neunte Tag des Monates Aw«, sagte Savi. »Ein Tag der Klage. Am Tischa b’Aw wurden sowohl der Erste als auch der Zweite Tempel zerstört, und ich glaube, die Voynixe haben diesen blasphemischen Dritten Tempel an einem neunten Aw gebaut –
Weitere Kostenlose Bücher