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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Seile schlaff waren, kletterte hastig eine weitere Leiter in die Dunkelheit des dritten Decks hinunter und schaltete seine Brust- und Schulterlampen ein, um den Weg zu finden. Dann tauschte er seine Manipulatoren gegen Schneiden aus und hackte sich durchs Deck zu der Stelle durch, wo die Ruderseile seiner Schätzung nach gerissen waren. Der Moravec hatte keine Ahnung, ob die alten Feluken auf der Erde auch so ausgerüstet gewesen waren – vermutlich nicht –, aber diese große marsianische Feluke wurde mit einem Doppelrad auf dem oberen Achterdeck gesteuert, und zwar mittels zweier dicker Hanftaue, die sich unterwegs trennten, über ein System von Flaschenzügen an den Seiten des Schiffes entlangliefen, sich dann wieder trafen und durch diesen langen Holzschacht zur Pinne führten, die das Ruder drehte. Während der wochenlangen Reise war er im Schiff umhergewandert und hatte sich eingehend mit der Takelage und der Struktur der diversen Seilsysteme beschäftigt. Falls die beiden gewaltigen Taue einfach unter der Belastung des Sturms nachgegeben hatten und gerissen waren, konnte er sie vielleicht spleißen, aber dazu musste er sie erst einmal erreichen. Wenn sie weiter hinten bei der Pinne gerissen waren, wo er nicht an sie herankam, war jeder an Bord des Schiffes zum Tode verurteilt. Würde er im letzten Moment abspringen, unter der rauschenden Brandung hindurch an den hohen Klippen vorbeizuschwimmen versuchen und einen ruhigen Hafen irgendwo an der tausend Kilometer langen Küste von Candor Chasma suchen, wo er sich aus dem Wasser schleppen konnte? Eines stand fest – Orphu von Io konnte er nicht mitnehmen. Als er in den Ruderseilschacht durchbrach, schaltete er seine Lampen auf volle Kraft und schaute nach vorn und nach hinten. Von den Seilen war nichts zu sehen.
    »Na, ist alles in Ordnung?«, fragte Orphu.
    Als die Funkstimme in seinen Ohren ertönte, schreckte Mahnmut zusammen. »Ja«, sagte er. »Ich nehme ein paar kleine Reparaturen am Ruder vor.« Da waren sie! Die beiden Seile in dem engen Führungsschacht waren gerissen; die hinteren Abschnitte waren ungefähr sechs Meter entfernt, die vorderen Segmente sah er gerade eben noch zehn Meter weiter vorn. Er lief hin und her, durchbohrte die Hartholzplanken, zog die Enden der oberschenkeldicken Taue aus ihrem Schacht und zerrte sie unter Einsatz jedes Ergs Energie in seinem Körper zur Mitte.
    »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Orphu.
    Mahnmut zog seine Schneiden ein, fuhr sämtliche Manipulatoren aus und schaltete seine Feinmotoriksteuerung auf besonders fein. Er begann, die dicken Stränge so schnell zu spleißen, dass seine Metallfinger in den Lichtkegeln seiner Halogenlampen verschwammen, die durch die Dunkelheit im dritten Deck schnitten. Wasser schwappte hin und her, an ihm vorbei und über ihn hinweg, als das Schiff jede schreckliche Welle rückwärts hinaufrollte und dann auf der Rückseite der Welle ins Tal hinabglitt. Dann bereitete er sich auf die nächste Welle vor, die mit dem Geräusch und der Wucht einer abgefeuerten Kanone gegen das Heck krachte. Und er wusste, dass das Schiff den wartenden Felsen und Klippen mit jeder Welle ein gutes Stück näher kam.
    »Alles bestens«, sagte Mahnmut, während er mit fliegenden Fingern Stränge verwob und mit den schwachen Lasern an seinem Handgelenk die Metallfasern in den ramponierten Tauen verschweißte. »Ich bin nur gerade sehr beschäftigt.«
    »Dann melde ich mich in ein paar Minuten noch mal«, erklärte Orphu.
    »Ja«, sagte Mahnmut und dachte: Wenn ich die Ruderfunktion nicht wieder herstellen kann, werden wir in rund dreißig Minuten auf die Felsen geworfen. Eine Viertelstunde vorher sage ich es ihm. »Ja«, antwortete Mahnmut, »tu das. Melde dich in ein paar Minuten noch mal.«
     
    Sie war nicht die Dark Lady – diese primitive Feluke hatte keinen Namen –, aber sie war wieder fahrtüchtig und steuerbar. Mahnmut stand breitbeinig oben auf dem Achterdeck, um auf dem stampfenden, rollenden Schiff die Balance zu wahren. Die sturmgepeitschten Klippen waren weniger als einen Kilometer voraus deutlich zu sehen. Die Tuchfetzen, die er zu primitiven Segeln zusammengenäht hatte, waren an beiden Masten gehisst. Er packte das Steuerrad. Die Ruderseile hielten, und das Ruder reagierte. Er drehte das Schiff mühsam in den Wind und rief Orphu, um ihn über die Lage zu unterrichten. Er erzählte dem Ionier die Wahrheit – wahrscheinlich würde das verdammte Schiff spätestens in

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