Ilium
Chancen stehen gut«, sagte Mahnmut. Da er seinen Freund nicht belügen wollte, versuchte er, seine Antwort möglichst vieldeutig zu formulieren.
»Kannst du bei diesem Sturm schwimmen?« Orphu hatte begriffen, dass die »guten« Chancen in diesem Satz für sie beide nichts Gutes bedeuteten.
»Kaum«, sagte Mahnmut. »Aber ich kann unter den Wellen schwimmen.«
»Ich werde wie der sprichwörtliche Stein untergehen«, sagte Orphu mit leisem Rumpeln. »Was hast du gesagt, wie tief die Valles Marineris hier sind?«
»Darüber habe ich nichts gesagt.«
»Na schön, dann sag’s mir jetzt.«
»Ungefähr siebentausend Meter.« Mahnmut hatte es gerade vor einer Stunde per Echolot ermittelt.
»Würdest du in dieser Tiefe zerquetscht werden?«, fragte Orphu.
»Nein. Ich habe schon unter viel höherem Druck gearbeitet. Ich bin dafür konstruiert.«
»Würde ich zerquetscht werden?«
»Weiß ich nicht«, sagte Mahnmut. Das stimmte zwar, aber er wusste, dass Orphus Moravec-Linie für den Nulldruck des Weltraums und gelegentliche Streifzüge in die oberen Regionen eines Gasriesen oder die Schwefelgruben von Io konstruiert war, nicht für die brutalen Druckverhältnisse eines siebentausend Meter tiefen Salzmeers. Bevor sein Freund auch nur drei Kilometer Tiefe erreichte, würde er höchstwahrscheinlich auf die Größe einer zerknautschten Dose zusammengepresst werden oder einfach implodieren.
»Haben wir eine Chance, heil an Land zu kommen?«, fragte Orphu.
»Ich glaube nicht«, sagte Mahnmut. »Die Klippen, die ich gesehen habe, waren riesig, lotrecht, mit gewaltigen Felsbrocken am Fuß. Die Wellen, die sich dort brechen, müssen jetzt fünfzig bis hundert Meter hoch sein.«
»Interessantes Bild«, meinte Orphu. »Besteht eine Aussicht, dass die KGMs uns in einen sicheren Hafen bringen?«
Mahnmut schaute sich in dem halbdunklen Raum auf dem Unterdeck um. Die KGMs lagen wie ein Haufen Chlorophyll-Puppen festgebunden in ihren Nischen; ihre grünen Arme und Beine schlenkerten hin und her, während das Schiff heftig stampfte und rollte. »Ich weiß es nicht«, sagte er in einem Ton, dem seine Skepsis deutlich anzuhören war.
»Dann musst du dafür sorgen, dass wir den Sturm überleben«, erklärte Orphu.
Mahnmut tat sein Bestes, um sie zu retten. Am fünften Tag – der Himmel war eine blutrote Dunkelheit, der Wind heulte durch die zerfetzten Segel, die KGMs waren wie Klafterholz unter Deck verstaut und das Doppelsteuerrad auf dem Achterdeck war festgebunden, um das Ruder gerade zu halten – holte Mahnmut die Überreste der Segel ein und besorgte sich die Schnur und die riesigen Nadeln, mit denen die KGMs das Polymertuch geflickt hatten; jetzt flickte er es, während die Feluke hin und her schwankte, fünfzehn Meter hohe Wellen sie seitlich trafen und herumwarfen und Wellen über das Mitteldeck spülten.
Als Erstes bastelte er einen kleineren, behelfsmäßigen Treibanker, ließ ihn am Ankertau hinab, um den Bug wieder in den Wind zu bringen, und versuchte, Abstand von dem unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Leeufer hinter ihnen zu gewinnen. Er hatte gerade angefangen, das dreieckige Hauptsegel zu flicken, als die Ruderseile unter Deck rissen. Die Feluke geriet ins Taumeln, übernahm mehrere riesige Wellen roten Wassers, verlor ihre Tendenz, in den Wind zu drehen, schwenkte dann herum und lief wieder vor dem Wind. Hohe Wellen krachten aufs Achterdeck. Nur der primitive Treibanker hatte sie vor dem Kentern bewahrt, als sich das Ruder verabschiedete. Mahnmut ging zum Bug, und als die roten Wolken für ein paar Sekunden aufrissen und die Feluke auf den Gipfel der nächsten windgepeitschten Welle stieg, sah er durch die Gischt und das Halbdunkel die hohen Klippen der Nordseite von Valles Marineris. In weniger als einer Stunde würde das Schiff an den Felsen zerschellen, wenn das Ruder nicht schnellstens repariert wurde.
Mahnmut machte ein Tau fertig und ging übers Heck hinunter, um nachzuschauen, ob das Ruder noch mit dem Boot verbunden war – das war es, aber es schwang frei an seiner kardanischen Aufhängung –, dann kletterte er durch brechende Wellen das nasse Tau hoch, überquerte das Mitteldeck, schlitterte die Treppe zum zweiten Deck hinunter und fand dort das Notsteuerungszentrum – nur eine Plattform mit Flaschenzügen, von der aus die KGMs das Schiff steuern konnten, indem sie direkt an den Ruderseilen zogen, wenn der Steuermechanismus oben beschädigt war. Er stellte fest, dass die beiden dicken
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