Ilium
als Mensch würde er jetzt über die Reling kotzen.
»Caliban!«, rief Orphu fast über die Engstrahl-Leitung. »›Ein verbittertes Herz, das abwartet und beißt.‹ Das verunstaltete Geschöpf, zum Teil Meeresungeheuer, zum Teil Mensch, hatte eine Hexe zur Mutter – Sycorax –, und ihr Gott war Setebos.«
Mahnmut erinnerte sich, dass das sterbende KGM diese Worte benutzt hatte, aber er konnte sich jetzt nicht auf ihre Bedeutung konzentrieren. Die gesamte Unterhaltung war wie das Auffädeln blutiger Perlen auf eine Sehne aus lebendigem Gewebe gewesen.
»Könnte es sein, dass die KGMs uns vor drei Tagen bei unserer Sturm- Rezitation zugehört haben, als du die Kontrolle über die Feluke wiedergewonnen hattest?«, fragte Orphu.
»Uns zugehört? Sie haben keine Ohren.«
»Dann kommt das Echo auf diese seltsame neue Wirklichkeit von uns, nicht von ihnen«, sagte der Ionier, aber diesmal klang sein Rumpeln unheildrohender als sein übliches Gelächter.
»Wovon redest du?«, fragte Mahnmut. Im Westen waren rote Klippen in Sicht gekommen. Sie erhoben sich sieben- oder achthundert Meter über die Wasserfläche des sich weitenden Deltas von Candor Chasma.
»Es hat den Anschein, als befänden wir uns in einem wahnsinnigen Traum«, sagte Orphu. »Aber die Logik ist konsequent … auf ihre eigene irrwitzige Weise.«
»Wovon redest du?«, wiederholte Mahnmut. Er war nicht in der Stimmung für weitere Spielchen.
»Wir kennen jetzt die Identität des Steingesichts«, erklärte Orphu.
»Ach wirklich?«
»Ja. Der Magus. Der aus den Büchern. Herr des Sohnes von Sycorax.«
Mahnmuts Verstand funktionierte nicht richtig; es gelang ihm nicht, diese klar ersichtlichen Punkte zu verbinden. Sein System war noch immer von der fremdartigen Nanobyte-Woge erfüllt, einer friedlichen, wenn auch erlöschenden Klarheit, die Mahnmut fremd, aber willkommen war … sehr willkommen. »Wer?«, sagte er zu Orphu, ohne sich darum zu scheren, ob sein Freund ihn für begriffsstutzig hielt.
»Prospero«, sagte Orphu.
30
Feldlager der Achäer, Küste von Ilium
Bisher ist dieser Abend genau so verlaufen, wie Homer es vorausgesagt hat.
Die Trojaner haben ihre vielen hundert Wachtfeuer unmittelbar hinter dem Graben der Achäer errichtet – der letzten griechischen Verteidigungslinie hier unten am Strand –, aber die Achäer, die an diesem langen Tag vom Morgen bis in die späte Nacht so gründlich geschlagen worden sind, haben in ihrer ziellosen Verwirrung sogar auf Kochfeuer verzichtet. Ich habe die Gestalt des alten Phönix angenommen und mich zu der Versammlung bei Agamemnons Zelt gesellt, wo der weinende Sohn des Atreus – er weint! dieser König der griechischen Könige weint! – seine Truppenführer bedrängt, mitsamt ihren Männern zu fliehen.
Ich erlebe nicht zum ersten Mal, dass Agamemnon zu dieser Strategie greift – er gibt vor, sich aus dem Staub machen zu wollen, um seine Männer zum Widerstand aufzustacheln –, aber diesmal meint der alte König es offenbar ernst. Agamemnon – wirre Haare, blutbesudelte Rüstung, Tränenrinnsale auf den schmutzigen Wangen – will, dass seine Männer fliehen, um ihr Leben zu retten.
Doch Diomedes widerspricht Agamemnon. Er verkneift es sich gerade noch, den König als Feigling zu beschimpfen, und verspricht, wenn alle anderen flöhen, würden er und Sthenelos allein weiterkämpfen, bis das Schicksal Trojas besiegelt sei. Die anderen Achäer bejubeln diese Prahlerei lautstark, dann meldet sich der alte Nestor unter Berufung auf seine Jahre zu Wort und schlägt vor, sie sollten sich alle beruhigen, etwas essen, Wachposten aufstellen, Männer ausschicken, die den Graben und den Wall bewachen, und alles noch einmal gründlich durchsprechen, bevor sie zu den Schiffen stürzen, in See stechen und heimfahren.
Und das tun sie, genau wie Homer es beschrieben hat.
Dann beziehen die sieben Führer der Wachen, angeführt von Nestors schon etwas älterem Sohn Thrasymedes, mit jeweils hundert Kämpfern neue Verteidigungspositionen zwischen Graben und Wall und entzünden dort ihre Kochfeuer. Die Handvoll griechischer Feuer – bald ergänzt um Agamemnons Festschmausfeuer – sind ein kläglicher Anblick im Vergleich zu den vielen hundert trojanischen Wachtfeuern jenseits des Grabens, von denen Funken zu den sich am Himmel türmenden Gewitterwolken aufstieben.
Hier bei Agamemnons Beratungsmahl, an dem sämtliche anwesenden achäischen Herrscher und Ältesten teilnehmen, entspricht der Dialog
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