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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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wanden –, war Odysseus nicht da gewesen, um sich von seiner jungen Freundin zu verabschieden.
    Ada war wütend gewesen, als die beiden in einer von Ardis’ Droschken zum Faxpavillon fuhren. Hannah hatte ein bisschen geweint und das Gesicht abgewandt, damit Ada es nicht sah. Hannah war immer die robusteste junge Frau gewesen, die Ada kannte – die zu jedem Risiko bereite Sportlerin, Künstlerin und Bildhauerin –, aber an diesem Morgen wirkte sie wie ein verlorenes kleines Mädchen.
    »Vielleicht schenkt er mir Beachtung, wenn ich aus der Klinik zurückkomme«, hatte Hannah gesagt. »Vielleicht sieht er morgen eher eine Frau in mir.«
    »Vielleicht«, sagte Ada, aber sie dachte, dass die Männer offenbar allesamt selbstsüchtige, egoistische, unsensible Schweine waren, die nur auf eine Gelegenheit warteten, um sich wie noch größere selbstsüchtige, egoistische, unsensible Schweine zu benehmen.
    Hannah hatte so zerbrechlich ausgesehen, als die zwei Servitoren aus dem Faxpavillon geschwebt kamen, sie jeweils an einem Arm fassten und zum Faxportal führten. Es war ein schöner Tag gewesen, mit klarem blauem Himmel und einer leichten Brise aus Westen, aber wenn es nach Adas Stimmung gegangen wäre, hätte es ebenso gut regnen können. Sie wusste nicht, woher diese Untergangsstimmung rührte – sie hatte Dutzende von Freundinnen und Freunden zu ihren diversen Zwanziger-Reisen in die Klinik begleitet und war auch selbst dort gewesen, erinnerte sich jedoch nur undeutlich, dass sie in einer warmen Flüssigkeit geschwommen war –, aber Ada hatte geweint, als Hannah in der Sekunde, bevor das Faxportal sie wegzauberte, die Hand hob und winkte. Und die einsame Rückfahrt nach Ardis Hall hatte ihre Wut auf Odysseus, Harman und die Männer im Allgemeinen nur noch verstärkt.
     
    Daher fühlte sich Ada ganz und gar nicht wie eine liebevolle Jüngerin, als sie den Hügel hinter Ardis Hall hinaufwanderte, um sich anzuhören, was Odysseus den Getreuen und Neugierigen zu sagen hatte.
    Der kleine, bärtige Mann trug seinen Kittel und seine Sandalen. Das Schwert hing an seiner Seite, und er saß auf einem umgestürzten Baum, den er eigenhändig gefällt hatte. Überall um ihn herum und hangabwärts zum Haus saßen und standen mehrere hundert Männer und Frauen. Nicht wenige der Männer trugen jetzt ähnliche Kittel wie Odysseus und dazu den gleichen breiten Ledergürtel. Die meisten schienen sich Bärte stehen zu lassen, was seit Adas frühester Jugend noch nie in Mode gewesen war.
    Odysseus beantwortete gerade Fragen. Ada kannte seinen üblichen Zeitplan: Eine Stunde nach Sonnenaufgang sprach er ungefähr neunzig Minuten lang, dann ging er stundenlang allein spazieren, beantwortete in der Stunde vor dem Mittagessen Fragen, redete am Nachmittag noch einmal ohne Unterbrechung und ging in der langen Dämmerstunde nach Sonnenuntergang ein zweites Mal auf Fragen ein. Dies war die Versammlung vor dem Mittagessen.
    »Lehrer, weshalb müssen wir herausfinden, wer unsere Väter sind? Das war noch nie wichtig.« Ein neuer junger Mann hatte die Hand gehoben.
    Im vergangenen Monat hatte Ada bemerkt, dass Odysseus beim Sprechen normalerweise die Hände ausstreckte und mit seinen kurzen, kräftigen Fingern in die Luft stach, als wollte er seine Worte unterstreichen. Seine Arme und Beine waren braun und kräftig. Nun fiel ihr zum ersten Mal auf, dass einige der bärtigen Männer im Publikum ebenfalls braun wurden und Muskeln bekamen. Odysseus hatte im Wald auf der Hügelkuppe einen Hindernisparcours eingerichtet – nur Seile, Baumstämme und schlammige Gruben – und verlangte, dass jeder, der ihm mehr als zweimal zuhörte, mindestens eine Stunde pro Tag auf dem Parcours trainierte. Viele der Jünger – und auch einige der Jüngerinnen – hatten über die Idee gelacht, als sie es zum ersten Mal ausprobierten, aber jetzt verbrachten sie täglich lange Stunden auf dem Parcours oder beim Laufen. Es versetzte Ada in Erstaunen.
    »Wenn man seinen Vater nicht kennt«, antwortete Odysseus mit seiner tiefen, ruhigen, aber auf grimmige Weise festen Stimme, die immer so weit zu tragen schien wie nötig, »wie kann man sich dann selbst kennen? Ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes. Mein Vater ist ein König, aber auch ein Mann des Erdreichs. Als ich ihn zum letzten Mal sah, lag der alte Mann auf den Knien im Dreck und pflanzte einen Baum, wo ein alter, von einem Blitz getroffener Baumriese umgestürzt war, den er schließlich selbst gefällt hatte.

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