Ilium

auf einem der wenigen Äste des umgestürzten Baumes gelandet war, die Odysseus nicht abgehackt hatte. »Er ist nicht nur immer noch tot«, sagte er, »er ist gerade erst gestorben. Aber die Nützlichkeit des Baumes – in den Nützlichkeitsbegriffen des Agon – hat bereits die Nützlichkeit dieses lebenden Baumes dort oben übertroffen. Für diesen Vogel. Für die Insekten, die sich jetzt gerade in die Rinde dieses gefallenen Riesen graben. Für die Mäuse, Maulwürfe und größeren Geschöpfe, die bald kommen werden, um den toten Baum zu bewohnen.«
    »Wer wird dann der endgültige Richter über das Agon sein«, fragte ein ernster, älterer Mann in der fünften Reihe. »Vögel, Käfer oder Menschen?«
    »Alle«, antwortete Odysseus. »Jeder zu seiner Zeit. Aber der einzige Richter, auf den es ankommt, bist du selbst.«
    »Ist das nicht arrogant?«, wollte eine Frau wissen, in der Ada eine Freundin ihrer Mutter erkannte. »Wer hat uns zum Richter erwählt? Wer hat uns das Recht gegeben, Urteile zu fällen?«
    »Das Universum hat dich durch fünfzehn Milliarden Jahre der Evolution erwählt«, sagte Odysseus. »Es hat dir Augen gegeben, mit denen du sehen kannst. Hände, mit denen du etwas halten und wiegen kannst. Ein Herz, um etwas zu fühlen. Einen Geist, um die Regeln des Urteilens zu lernen. Und eine Vorstellungskraft, mit der du das Urteil des Vogels und des Käfers – ja selbst der anderen Bäume – in dieser Angelegenheit in Betracht ziehen kannst. Und du musst dich von Arete leiten lassen, wenn du dieses Urteil fällst – glaub mir, die Käfer, Vögel und Bäume tun das bereits. In ihrer Welt haben sie keine Zeit für Mittelmäßigkeit. Sie machen sich keine Gedanken über die Arroganz des Urteilens, sei es in der Wahl eines Partners, eines Feindes – oder eines Zuhauses.«
    Odysseus zeigte auf die Stelle, wo der Sperling in ein Loch in dem umgestürzten Stamm gehüpft und in dem Hohlraum dahinter verschwunden war.
    »Lehrer«, rief ein junger Mann weit hinten in der Menge, »weshalb verlangst du von uns Männern, dass wir mindestens einmal am Tag ringen?«
    Ada hatte genug gehört. Sie ging mit dem Rest ihres kalten Getränks zum Haus zurück. Auf der Veranda hielt sie inne und schaute in den lang gestreckten, grasbewachsenen Garten, wo Dutzende weiterer Besucher – Jünger – gemeinsam spazieren gingen und sich unterhielten. Die Seide an den Zelten flatterte in der warmen Brise. Servitoren schwebten von einem Besucher zum anderen, aber nur wenige nahmen die angebotenen Speisen oder Getränke an. Odysseus hatte darum gebeten, dass jeder, der hier blieb, um ihn mehr als einmal sprechen zu hören, die Servitoren nicht für sich arbeiten und sich nicht von den Voynixen bedienen ließ. Anfangs hatte das viele vertrieben, aber nun blieben immer mehr hier.
    Ada schaute zum blauen Himmel hinauf, sah die hellen Kreise der beiden Ringe, die sich dort drehten, und dachte an Harman. Sie war so wütend auf ihn gewesen, als er davon gesprochen hatte, dass die Frauen Monate, Jahre oder Jahrzehnte nach dem Verkehr unter dem Sperma der Männer auswählten – darüber redete man einfach nicht, außer von Mutter zu Tochter, und dann auch nur einmal. Und dieser Unsinn mit den beteiligten Nachtfaltergenen, als hätten die Frauen nicht seit unvordenklichen Zeiten die Väter ihrer genehmigten Babys gewählt. Es war so … obszön von Harman gewesen, dieses Thema zur Sprache zu bringen.
    Doch erst die Erklärung ihres neuen Geliebten, er wolle der Vater von Adas Kind sein … nicht nur derjenige sein, dessen Samen irgendwann in der Zukunft gewählt wurde, sondern bei dem Kind bleiben und als Vater anerkannt sein … ‚ hatte Ada dermaßen verblüfft und wütend gemacht, dass sie Harman ohne ein freundliches Wort – ganz im Gegenteil, mit feindseligen Worten und Blicken – zu seinem harmlosen Abenteuer mit Savi und Daeman weggeschickt hatte.
    Ada legte die Hand auf ihren Unterleib. Kein Servitor hatte ihr im Auftrag der Klinik mitgeteilt, dass ihre Zeit für eine Schwangerschaft gekommen war, aber sie hatte auch nicht darum gebeten, auf die Liste gesetzt zu werden. Sie war froh, dass sie vorerst noch nicht zwischen – wie hatte Harman es genannt? – Spermapaketen wählen musste. Aber sie dachte an Harman, an seine intelligenten, liebevollen Augen, seine sanfte und dann wieder bestimmte Berührung, seinen alten, aber begierigen Körper, und berührte erneut ihren Bauch.
    »Aman«, flüsterte sie in sich hinein, »Sohn