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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Wenn ich meinen Vater nicht kennen würde, und dessen Vater vor ihm, und nicht wüsste, was diese Männer wert waren, wofür sie gelebt haben und wofür sie ihr Leben gegeben haben, wie könnte ich mich dann selbst kennen?«
    »Erzähl uns noch einmal von Arete«, bat eine Stimme aus der ersten Reihe. Ada erkannte den Sprecher; es war Petyr, einer der ersten Besucher. Petyr war kein junger Mann mehr – Ada dachte, dass er in seinem Vierten Zwanziger war –‚ aber er hatte einen fast ebenso vollen Bart wie Odysseus. Ada glaubte nicht, dass Petyr Ardis schon einmal verlassen hatte, seit er an jenem zweiten oder dritten Tag, als man die Besucher noch an zwei Händen abzählen konnte, Odysseus zum ersten Mal reden gehört hatte.
    »Arete ist einfach Vortrefflichkeit und das Streben nach Vortrefflichkeit in allen Dingen«, sagte Odysseus. »Arete bedeutet nichts weiter, als dass man all seine Handlungen als eine Art Sakrament für die Vortrefflichkeit darbringt, dass man sein Leben lang danach strebt, Vortrefflichkeit zu erreichen, sie erkennt, wenn sie sich zeigt, und sie in seinem eigenen Leben erlangt.«
    Ein Neuankömmling zehn Reihen hangaufwärts vor Ada, ein stämmiger, untersetzter Mann, der sie ein bisschen an Daeman erinnerte, lachte und sagte: »Wie kann man in allen Dingen Vortrefflichkeit erlangen, Lehrer? Und wer will das schon? Es klingt ungeheuer anstrengend.« Der Mann sah sich in dem sicheren Bewusstsein um, dass er Gelächter ernten würde, aber die anderen auf dem Hügel sahen ihn nur schweigend an und wandten sich dann wieder Odysseus zu.
    Der Grieche lächelte unbeschwert – starke weiße Zähne blitzten im Kontrast zu seinen gebräunten Wangen und dem kurzen, grauen Bart – und sagte: »Man kann nicht in allen Dingen Vortrefflichkeit erlangen, mein Freund, aber man muss es versuchen. Und wie könnte man es nicht wollen?«
    »Aber es gibt so vieles zu tun«, lachte der stämmige Mann. »Man kann nicht für alles üben. Man muss Entscheidungen treffen und sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren.« Der Mann drückte die junge Frau neben sich, offenkundig seine Gefährtin, und sie lachte laut, aber sie war die Einzige, die lachte.
    »Ja«, sagte Odysseus, »aber man beleidigt all jene Handlungen, bei denen man die Arete nicht ehrt. Essen? Iss, als wäre es deine letzte Mahlzeit. Bereite die Nahrung zu, als gäbe es keine weitere mehr! Den Göttern opfern? Du musst jedes Opfer so darbringen, als hinge das Leben deiner Familie von deiner Energie, Hingabe und Konzentration ab. Lieben? Ja, liebe, als wäre es das Wichtigste auf der Welt, aber sorge dafür, dass es nur ein Stern in der Konstellation der Vortrefflichkeit ist, die Arete ist.«
    »Ich verstehe das Agon nicht, Odysseus«, meldete sich eine junge Frau in der dritten Reihe. Ada wusste, dass sie Peaen hieß. Sie war intelligent und betrachtete alles mit Skepsis, aber dies war bereits ihr vierter Tag hier.
    »Das Agon ist einfach der Vergleich aller ähnlichen Dinge miteinander«, sagte Odysseus leise, aber deutlich, »und das Urteil, ob etwas gleich, größer oder geringer ist. Alles im Universum ist Teil der Dynamik des Agon.« Odysseus zeigte auf den Baum, auf dem er saß. »War dieser Baum größer, kleiner oder genauso groß wie … dieser Baum?« Er zeigte auf einen hohen, lebenden Baum weiter oben auf dem Hügel, am Waldrand. Voynixe standen unter den Schatten der Zweige. Die Voynixe hielten sich von Odysseus fern.
    »Dieser Baum lebt«, rief der stämmige Mann, der zuvor gesprochen hatte. »Er muss dem toten Baum überlegen sein.«
    »Sind alle lebenden Dinge allen toten überlegen?«, fragte Odysseus. »Viele von euch haben sich unter das Turin-Tuch gelegt und die Schlacht dort gesehen. Ist ein Düngerhändler heute ein besserer Mann als Achilles damals, nur weil Achilles jetzt tot ist?«
    »Das ist ein Vergleich zwischen unähnlichen Dingen«, rief eine Frau.
    »Nein«, sagte Odysseus. »Beide sind Menschen. Beide wurden geboren. Beide werden sterben. Es zählt wenig, ob der eine noch atmet und der andere nur in den ohnmächtigen Schatten der Hölle wohnt. Man muss fähig sein, Männer zu vergleichen – oder Frauen –‚ und deshalb müssen wir unsere Väter kennen. Unsere Mütter. Unsere Geschichte. Unsere Geschichten.«
    »Tja, der Baum, auf dem du da sitzt, ist immer noch tot, Lehrer«, sagte Petyr. Diesmal lachten Leute überall auf dem Hügel.
    Odysseus stimmte in das Gelächter ein. Er zeigte auf einen Sperling, der gerade

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