Ilium
Mal, wenn sie sich irgendwo abstießen oder um eine Ecke bogen, damit rechneten, auf Caliban zu treffen, fanden sie nur hin und wieder schwebende Blutkügelchen, die von ihm hätten stammen können. Am dritten Tag nach ihrem Aufbruch aus den Höhlen, als sich ihre Augen gerade auf das hellere Erdlicht einstellten, das durch die transparenten Paneele über ihnen hereinfiel, fanden sie eine Hand mitsamt Handgelenk – sie schwebte wie eine blasse Spinne vor den dicksten Tangwäldern –, die ihrer Ansicht nach Savi gehört haben konnte. In dieser Nacht – »Nacht« nannten sie die kurzen, zwanzigminütigen Phasen, in denen kein Erdlicht die durchsichtigen Scheiben über ihnen erhellte – hörten sie ein schreckliches, calibanisches Gebrüll aus der Richtung der Klinik. Das Geräusch schien eher durch den Boden des Asteroiden und das exotische Material der Türme um sie herum übertragen zu werden als durch die dünne Luft.
Einen Monat nach ihrer Ankunft in dieser Orbitalen Hölle hatten sie die gesamte Stadt bis auf zwei Bereiche erforscht – das andere Ende der Klinik jenseits der Stelle, wo sie Caliban zum ersten Mal begegnet waren, und einen langen, dunklen Korridor genau dort, wo sich die Stadt in einer scharfen Krümmung um den Nordpol des Asteroiden herumzog. Dieser schmale, nicht mehr als zwanzig Meter breite Korridor war fensterlos und mit wogendem Tang gefüllt – ein perfektes Versteck für einen genesenden Caliban –, und bei ihrem ersten Ausflug um den kleinen Mond herum hatten sie beide beschlossen, sich von diesem dunklen Ort fern zu halten und stattdessen die übrige Nachmenschenstadt zu untersuchen. Nun war die übrige Stadt untersucht – keine Raumschiffe, keine Luftschleusen, keine Kontrollräume, keine anderen Kliniken, keine Lagerräume voller Nahrung, keine weiteren Wasserquellen –, und ihnen blieben drei Möglichkeiten: Sie konnten wieder in die Höhlen hinuntergehen und ihren Echsenvorrat auffrischen, weil sie bei ihrer letzten, verwesenden Echsenleiche angelangt waren; sie konnten in die Klinik zurückkehren, um die Faxknoten in den dortigen Tanks auszuprobieren; oder sie konnten den dunklen, mit Tang gefüllten Korridor erkunden.
»Der dunkle Ort«, votierte Harman.
Daeman nickte nur müde.
Sie kickten sich durch den verfilzten Tang, eine Hand am Arm des anderen, um nicht getrennt zu werden. An diesem Tag hatte Daeman die Schusswaffe, und er schwenkte sie bei jeder geisterhaften Bewegung des Tangs von einer Seite zur anderen. Da es hier keine Fenster gab und der reflektierte Lichtschein des zentralen Stadtkerns nicht bis hierher reichte, zeigte ihnen nur Savis Taschenlampe den Weg. Beide Männer fragten sich, wie lange die Taschenlampe noch Licht spenden würde, aber keiner sprach seine Besorgnis laut aus. Daeman beruhigte sich mit der Erinnerung an den trüben Lichtschein in den meisten, aber nicht allen Höhlen unten, der mit etwas Glück für die Echsenjagd reichte, aber die Wahrheit war, dass er nie wieder in diese beinhausartigen Jagdgründe hinunter wollte. Er hatte Harman erst vor zwei Nächten nach dem fast luftleeren Raum um sie herum gefragt.
»Was glaubst du, was passieren würde, wenn ich meine Osmosemaske abnähme?«
»Du würdest sterben«, sagte Harman emotionslos. Er fühlte sich krank – eine höchst seltene Erfahrung für Menschen, weil die Klinik solche Dinge regelte – und zitterte vor Kälte, obwohl die Thermohaut seine Körperwärme bewahrte. »Du würdest sterben«, wiederholte er.
»Schnell?«
»Langsam, glaube ich«, sagte Harman. Seine blaue Thermohaut war mit Flussschlamm und Echsenblut besudelt. »Du würdest ersticken. Aber da es kein vollständiges Vakuum ist, würdest du eine ganze Weile kämpfen.«
Daeman nickte. »Und wenn ich die Thermohaut auszöge und die Maske aufbehielte?«
Harman dachte darüber nach. »Das ginge schneller«, stimmte er zu. »Du würdest binnen einer Minute erfrieren.«
Daeman hatte nichts gesagt und angenommen, dass Harman wieder eingeschlafen war, doch dann flüsterte er über Funk: »Aber tu’s nicht, ohne mir vorher Bescheid zu sagen, in Ordnung, Daeman?«
»In Ordnung«, sagte Daeman.
Der Tang im Korridor war so dicht, dass sie beinahe umkehren mussten, aber indem einer von ihnen die schwebende Masse beiseite schob, während der andere sich durchzwängte, gelang es ihnen, sich die etwa zweihundert Meter lange, dunkle, fensterlose Säule entlangzuschlängeln, zu kicken und zu hangeln. Am Ende stießen sie
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