Ilium
auf eine Wand – genau wie beide Männer es nach ihren Mühen erwartet hatten –, aber Daeman lenkte den Taschenlampenstrahl immer wieder am Tang vorbei, und auf einmal konnten sie nur so gerade eben ein weißes Quadrat in dem dunklen Schott aus exotischem Material ausmachen. Da Daeman die Schusswaffe hatte, durchquerte er die halb durchlässige Membran zuerst.
»Was siehst du?«, rief Harman über Funk. Er war noch draußen. »Siehst du etwas?«
»Ja.« Die Antwort kam über Daemans Thermohaut-Anzugfunk, aber es war nicht Daemans Stimme. »Er sieht wundervolle Dinge.«
50
Ilium
»Erzähl mir noch mal, was du siehst«, sagte Orphu. Er sprach nicht über Engstrahl, sondern per K-Link-Kabel. Mahnmut ritt auf dem Rücken des Ioniers wie ein Jockey auf einem schwebenden Elefanten. Dank des K-Links hatten sie so viel Bandbreite, dass Orphu ihm die gesamten Datenbanken mit der griechischen Sprache und der Ilias in ein paar Sekunden heraufladen konnte.
»Die Anführer der Griechen und Trojaner treffen sich gerade auf diesem Hügel«, sagte Mahnmut. »Wir befinden uns unmittelbar hinter dem griechischen Kontingent – Achilles, Hockenberry, Odysseus, Diomedes, der große und der kleine Ajax, Nestor, Idomeneus, Thoas, Tlepolemos, Nireus, Machaon, Polypoites, Meriones und noch ein halbes Dutzend Männer, deren Namen ich bei Hockenberrys kurzer Vorstellung vorhin nicht mitbekommen habe.«
»Aber kein Agamemnon? Kein Menelaos?«
»Nein, die sind noch in Agamemnons Lager und erholen sich von ihren Zweikämpfen mit Achilles. Hockenberry hat mir erzählt, dass Asklepios, ihr Heiler, sich um sie kümmert. Die Brüder haben gebrochene Rippen, Schnittwunden und blaue Flecken – Menelaos hat eine Gehirnerschütterung, weil Achilles ihm seinen Schild auf den Schädel gedroschen hat –, aber nichts Lebensbedrohliches. Dem Scholiker zufolge werden sie in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein.«
»Ich frage mich, ob Asklepios mir meine Augen und Arme zurückgeben könnte«, rumpelte Orphu.
Darauf wusste Mahnmut nichts zu erwidern.
»Was ist mit den Trojanern?«, fragte Orphu gespannt. Seine Stimme klang wie die eines menschlichen Kindes, oder vielmehr so, wie Mahnmut sich die Stimme eines menschlichen Kindes immer vorgestellt hatte: fröhlich, begeistert, beinahe vergnügt. »Wer ist als Vertreter Iliums da?«
Mahnmut stellte sich auf die rissige Hülle, um besser über die Rosshaarkämme auf den Köpfen der achäischen Recken hinweg in die Reihen der Trojaner schauen zu können.
»Hektor führt das Kontingent natürlich an«, sagte er. »Sein roter Rosshaarbusch und der strahlende Kriegshelm heben sich deutlich ab. Er trägt auch einen roten Umhang. Es ist, als wollte er die Götter herausfordern, herunterzukommen und zu kämpfen.«
Mahnmut hatte Orphu bereits Hockenberrys Schilderung der Szene weitergegeben, die sich an diesem Nachmittag abgespielt hatte, als Hektor und seine Gattin, Andromache, inmitten Tausender versammelter Krieger Iliums marschiert waren und dabei den verstümmelten Leib ihres toten Sohnes, Skamandrios, hochgehalten hatten, der immer noch in sein blutbeflecktes königliches Tuch gekleidet war. Sie hatten den Leichnam in die Höhe gereckt, damit alle Trojaner ihn sehen konnten. Hockenberry berichtete, dass Tausende von Achäern noch erwogen, mit ihren schwarzen Schiffen aufs hohe Meer zu fliehen, aber nach Hektors und Andromaches grimmiger Prozession waren sämtliche Trojaner und ihre Verbündeten bereit, gegen die Götter zu kämpfen, von Mann zu »Mann«, wenn es sein musste.
»Wer außer Hektor ist noch da?«, fragte Orphu.
»Paris steht neben ihm. Dann der alte Berater, Antenor, und König Priamos selbst. Die alten Männer stehen ein Stück weit auseinander, um Hektor nicht in die Quere zu kommen.«
»Antenors zwei Söhne, Akamas und Archelochos, sind bereits getötet worden, glaube ich«, sagte Orphu. »Beide vom telamonischen Ajax – dem großen Ajax.«
»Ich glaube, das stimmt. Es muss schwer für sie sein, sich die Unterarme zum Waffenstillstand zu reichen, wie sie es gerade tun. Ich sehe, dass der große Ajax mit Antenor spricht, als wäre nichts geschehen.«
»Das sind alles Berufssoldaten. Sie wissen, dass sie ihre Söhne für den Kampf und womöglich für den Tod großziehen. Wer gehört noch zu Hektors Kontingent?«
»Äneas ist da«, sagte Mahnmut.
»Ah, die Aeneis«, seufzte Orphu. »Äneas ist … war es bestimmt, der einzige Überlebende des Königshauses von Ilium zu
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