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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Göttinnen zu sein.
    Dann beginnt das Bombardement.
    Die Strahlen kreischen in die Stadt herunter wie schlanke, silberne Raketengeschosse, und überall, wo einer einschlägt, gibt es eine Explosion, Staub und Rauch wallen auf, Schreie. Nach den Maßstäben der Antike ist Ilium eine große Stadt, aber die Pfeile kommen schnell – von Apollos Bogen, stelle ich fest, aber der Schütze ist Ares, wie ich zu sehen glaube, als der Streitwagen tief herabstößt, um den angerichteten Schaden zu begutachten – und bald kommen die Explosionen und Schreie aus jedem Viertel der ummauerten Metropole.
    Mir wird klar, dass ich nicht nur die Kontrolle über alles, sondern auch jeden aus den Augen verloren habe, dem ich helfen, mit dem ich sprechen oder mich beraten sollte. Achilles ist wahrscheinlich schon etliche Kilometer entfernt bei seinen Männern und versucht zu verhindern, dass sie in panischem Schrecken davonsegeln. Ich höre weitere Explosionen – konventionelle, keine nuklearen – aus der Richtung des achäischen Lagers, und ich weiß nicht, wie es Achilles gelingen soll, seine Männer wieder zu sammeln. Hektor habe ich ebenfalls aus den Augen verloren, und wie ich sehe, ist das riesige skäische Tor wieder geschlossen worden – als könnte das die Götter fern halten. Draußen auf dem Hügel sind der arme Mahnmut und sein stummer Freund, Orphu, wahrscheinlich bereits zerstört worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass etwas dieses Bombardement übersteht.
    Weitere Explosionen auf dem zentralen Marktplatz. Trojanische Soldaten mit roten Federbüschen auf den Helmen eilen als Verstärkung zu den Mauern, aber die Gefahr ist nicht jenseits der Mauern. Der goldene Streitwagen rast wieder über die Stadt hinweg, außer Reichweite der Bogenschützen, und fünf silberne Pfeile regnen wie Scud-Raketen herunter und explodieren in der Nähe der Südmauer, des zentralen Brunnens und anscheinend direkt auf Priamos’ Palast. Ich fühle mich allmählich an CNN-Bilder vom zweiten Irak-Krieg erinnert, unmittelbar bevor ich Krebs bekam.
    Hektor. Der Held trommelt wahrscheinlich gerade seine Männer zusammen, aber da es nichts gibt, wofür er sie zusammentrommeln kann, außer damit sie den Kopf einziehen und Deckung suchen, ist er vielleicht auch nach Hause gegangen, um nach Andromache zu sehen. Ich denke an das leere, blutbesudelte Kinderzimmer und verziehe sogar hier im Rauch und Lärm der bombardierten Straßen das Gesicht. Das zur Königsfamilie gehörende Paar hat noch keine Zeit gehabt, sein Kind zu begraben.
    Herr im Himmel, ist das etwa alles mein Werk?
    Ein fliegender Streitwagen kommt im Sturzflug herunter. Eine Explosion reißt eine Bresche in die Brustwehr auf der Hauptmauer und schleudert ein Dutzend Gestalten mit roten Umhängen in die Luft. Körperteile regnen auf die Straßen und prasseln wie Hagelkörner aus Fleisch auf die Dächer. Plötzlich kehrt eine weitere Erinnerung zurück, ein ähnlicher Horror, dreitausendzweihundert Jahre in der Zukunft dieser Welt, zweitausendein blutige Jahre nach Christi Geburt. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Körper, die auf die Straße herabstürzen, und eine Mauer aus Staub und Bimsstein, die mehrere tausend Flüchtende verfolgt, genauso wie jetzt auf Iliums Hauptstraße. Nur die Gebäude und Kleidermoden sind anders.
    Wir werden es niemals lernen. Nichts wird sich jemals ändern.
    Ich laufe zu Hektors Haus. Weitere Geschosse regnen herab, sprengen den Platz unmittelbar hinter dem Tor, von dem ich gerade komme. Aus einem Trümmerhaufen, der noch vor zwei Minuten ein zweistöckiges Wohnhaus war, sehe ich ein kleines Kind auf die Straße taumeln. Ich kann nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, aber sein Gesicht ist blutig, sein lockiges Haar ist mit Gipsstaub bedeckt. Ich bleibe stehen und gehe auf ein Knie, um das Kind auf den Arm zu nehmen – wohin soll ich es bringen? Es gibt kein Krankenhaus in Ilium! –, aber eine Frau mit einem roten Kopftuch läuft zu dem Kleinkind und hebt es hoch. Ich wische mir Schweißbäche aus den Augen und taumele weiter zu Hektors Haus.
    Es ist fort. Hektors gesamter Palast ist verschwunden – nur Trümmer und eine Reihe von Löchern im Boden. Ich muss mir immer wieder den Schweiß aus den Augen wischen, um etwas zu sehen, und selbst dann kann ich es einfach nicht glauben. Dieser ganze Block ist von den herabregnenden Geschossen zermalmt worden. Trojanische Soldaten graben bereits mit ihren Lanzen und behelfsmäßigen Schaufeln in

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