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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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den Trümmern; der Staub in der Luft färbt ihre stolzen roten Federbüsche grau. Sie bilden eine Menschenkette und reichen der wartenden Menge auf der Straße Leichen und Körperteile durch.
    »Hock-en-bär-iihh«, sagt eine Stimme. Mir kommt zu Bewusstsein, dass jemand immer wieder meinen Namen gesagt hat, jetzt jedoch anfängt, an meinem Arm zu ziehen. »Hock-en-bär-iihh!«
    Ich drehe mich benommen um, blinzle Schweiß weg und schaue auf Helena hinunter. Sie ist schmutzig, ihr Gewand ist blutbefleckt, und ihre Haare sind ungekämmt. Noch nie habe ich etwas Schöneres als sie gesehen. Sie umarmt mich, und ich drücke sie mit beiden Armen an mich.
    Sie macht sich los. »Bist du schwer verletzt, Hock-en-bär-iihh?«
    »Was?«
    »Sind deine Verletzungen schwer?«
    »Ich bin nicht verletzt«, sage ich. Dann berührt sie mein Gesicht, und ihre Hand ist rot von Blut. Ich hebe die Hand an meine Schläfe – dort habe ich eine tiefe Schnittwunde, eine weitere ist in meinem Haaransatz –, sehe die blutigen Finger meiner beiden Hände, und mir wird klar, dass ich Blut weggewischt habe, nicht Schweiß. »Mir geht es gut«, sage ich. Ich zeige auf den rauchenden Trümmerhaufen. »Hektor? Andromache?«
    »Sie waren nicht hier, Hock-en-bär-iihh«, ruft Helena über die Schreie und das Stimmengewirr hinweg. »Hektor hat seine Familie in Athenes Tempel geschickt. Im Kellergeschoss sind sie in Sicherheit.«
    Ich schaue durch den Rauch und sehe das hohe, unversehrte Dach des Tempels. Natürlich, denke ich. Die Götter werden nicht ihre eigenen Tempel bombardieren. Zu viel verdammtes Ego.
    »Theano ist tot«, sagt Helena. »Hekabe auch. Und Laodike.«
    Hirnlos wiederhole ich die Namen. Die Priesterin der Athene, die Frau mit der kalten Klinge an meinen Eiern. Das ist gerade einmal ein paar Stunden her. Und Priamos’ Gattin und Tochter. Drei meiner Trojanerinnen sind bereits tot. Und das Bombardement hat gerade erst angefangen.
    Auf einmal fahre ich voller Panik herum. Die Geräusche sind falsch. Die Explosionen haben aufgehört.
    Männer und Frauen auf den Straßen zeigen zum Himmel und rufen aufgeregt durcheinander. Vier der fünf Streitwagen sind bereits verschwunden, und nun fliegt auch der fünfte – Ares’ Bomberstreitwagen, glaube ich – nach Norden und verschwindet abrupt vom Himmel, qtet offenbar zum Olymp zurück. All diese Verwüstungen – ich schaue mich um, betrachte die eingestürzten Häuser, die rauchenden Krater, die blutüberströmten Leichen auf den Straßen –, Resultat des Angriffs eines einzigen Gottes mit einem Bogen und ein paar von Apollos Pfeilen. Was kommt als Nächstes? Ein Angriff mit Biowaffen? Der glänzende Bogenschütze – der wahrscheinlich gerade in den Genesungstanks dort oben geheilt wird – ist berühmt dafür, dass er den Menschen auf der Erde mit seinen Pfeilen die Pest bringt.
    Ich packe das Medaillon an meinem Hals. »Wo ist Hektor?«, frage ich Helena. »Ich muss Hektor finden.«
    »Er ist mit Paris, Äneas und seinem Bruder Deiphobos wieder zum skäischen Tor hinausgegangen. Er sagt, er muss Achilles finden, bevor alle Herzen ermatten.«
    »Ich muss ihn finden.« Ich wende mich zum Haupttor, aber Helena hält mich zurück und dreht mich zu sich herum.
    »Hock-en-bär-iih«, sagt sie, zieht mein Gesicht zu sich herab und küsst mich inmitten des Gedränges und Geschreis auf der Straße. Als sich ihre Lippen von meinen lösen, kann ich nur benommen blinzeln, den Kopf immer noch zu ihrem Kuss geneigt. »Hock-en-bär-iihh«, wiederholt sie. »Wenn du sterben musst, stirb gut.«
    Dann dreht sie sich um und geht mit schnellen Schritten davon, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.
     

53
Äquatorialring
    Daeman war nicht sehr überrascht, als er sah, dass das Prospero-Hologramm aufstehen und laufen konnte. Der Magier nahm seinen Stab und ging langsam zur Glaskuppel. Als er den Kopf zu den vorbeiziehenden Sternen hob, betonte das fahle Licht die Runzeln an seiner Kehle und seinen Wangen. Der ganze Ansturm des Alters in den letzten Tagen rief bei Daeman ein Gefühl der Übelkeit hervor, das von ihrem aktuellen Gesprächsthema noch verstärkt wurde. Er versuchte sich eine Welt vorzustellen, in der seine Freunde und er – seine Mutter! – ebenso alterten wie Savi oder dieses fleckige Hologramm mit seinen Kehllappen. Das war eine so schreckliche Vorstellung, dass ihn ein kalter Schauer überlief.
    Dann erinnerte er sich an den Horror der Tanks, an die blauen Würmer und an Calibans

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