Ilium
Kommunikationslinks mit der Brücke und dem U-Boot verbunden. Die meisten nichttechnischen Gespräche führte er mit Mahnmut.
Ich finde deine Theorie über die dramatische Konstruktion der Sonette nach wie vor höchst interessant, mein Freund. Hoffentlich leben wir lange genug, dass du den Zyklus noch eingehender analysieren kannst.
Aber Proust!, erwiderte Mahnmut. Weshalb Proust, wenn man sein ganzes Dasein damit verbringen kann, Shakespeare zu studieren?
Proust war vielleicht der ultimative Erforscher von Zeit, Erinnerung und Wahrnehmung, antwortete Orphu.
Mahnmut gab ein Störungsgeräusch von sich.
Der zernarbte Ionier schickte sein Rumpeln über den Audiokanal. »Ich freue mich schon darauf, dich davon zu überzeugen, Mahnmut, mein Freund, dass sie alle beide sehr unterhaltsam und lehrreich sind.«
Die Nachricht von Koros III. kam über den öffentlichen Kanal. Ihr solltet vielleicht alle die Bandbreite auf den visuellen Kanälen erhöhen. Wir nähern uns Ios Plasmatorus.
Mahnmut befolgte Koros’ Rat und öffnete sämtliche visuellen Kanäle. Er beobachtete das Geschehen draußen zwar am liebsten durch Orphu von Ios Objektive, aber im Moment lieferten die vorderen Schiffskameras die interessanteren Bildinformationen, und nicht unbedingt in den Spektren des sichtbaren Lichts.
Sie beschleunigten in Richtung des riesigen, rot-gelb gefleckten Antlitzes von Io, hielten von unterhalb der Ebene der Ekliptik auf den Mond zu und machten sich bereit, ihn am Nordpol zu passieren, bevor sie in die Jupiter-Io-Flussröhre einflogen.
Während des kurzen Herflugs von Europa hatten Orphu und Ri Po sachdienliche Informationen über diesen Bereich des Jupiterraums heruntergeladen. Mahnmut, ein Geschöpf Europas, hatte sich in den dortigen schwarzen Ozeanen überwiegend aufs Sonar und das verfügbare sichtbare Licht konzentriert, jetzt aber stellte er fest, was für ein lauter, überladener Raum die Magnetosphäre des Jupiter war. Wenn er auf den Dekameterwellen nach vorn schaute, konnte er Ios jupiterdicken Plasmatorus und die im rechten Winkel dazu verlaufende Io-Flussröhre sehen, die wie zwei ausladende Hörner zum Nord- und Südpol des Jupiter führte. Weit hinter Jupiter und seinen Monden, jenseits der Magnetopause, spürte Mahnmut die Bugstoßturbulenz wie das Brechen gewaltiger Gischtwellen an einem verborgenen Riff, hörte die Langmuir-Wellen im Kielwasser der Turbulenz, die in der magnetischen Dunkelheit jenseits des Riffs sangen, und fing das Knistern der Ionenschallwellen nach ihrer langen Reise gegen den Schwerkraftsog der Sonne auf. Vom Jupiterraum aus gesehen war die Sonne selbst kaum mehr als ein sehr heller Stern.
Als das Schiff nun heraufkam und über Io hinweg in die Flussröhre eintauchte, hörte Mahnmut den Chor der Whistler-Wellen und das Zischen, das der kleine Mond von sich gab, während er durch seinen eigenen Plasmatorus pflügte, also sozusagen seinen eigenen Schwanz fraß. Er sah die Tiefenbänder äquatorialer Emissionen und musste das dumpfe Brausen der Dekameter- und Kilometerwellen dämpfen, das aus der Flussröhre selbst kam. Der gesamte galileische Raum war ein Schmelzofen starker Strahlung und elektromagnetischer Aktivität – Mahnmut hatte sein ganzes Dasein mit deren Hintergrundfauchen in seinen virtuellen Ohren verbracht –, doch der Übergang vom Torus in die Flussröhre so nah beim Jupiter war durch wilde Kaskaden gequälter Elektronen um ihr Schiff begleitet, zischend kreischend wie Todesfeen, die Einlass in ein belagertes Haus begehrten. Es war eine neue Erfahrung, und Mahnmut fand sie ziemlich enervierend.
Dann waren sie in der Flussröhre, und Koros III. rief: »Bleibt dran!«, bevor das Hurrikangetöse über die akustischen Kanäle hereinbrach.
Der Plasmatorus von Io war ein gigantischer Schmalzkringel aus geladenen Partikeln, die in der Bahn des Schwefeldioxids, Schwefelwasserstoffs und anderer von Orphus gewalttätigem Heimatmond hinterlassenen und dann wieder akkumulierten Gase aufgerührt wurden. Während Io in seinem schnellen 1,77 Tage-Orbit um den Jupiter raste, das Magnetfeld des Gasriesen durchschnitt und in seinen Plasmatorus pflügte, erzeugte er einen gewaltigen elektrischen Strom zwischen Jupiter und sich selbst, einen doppelhörnigen Zylinder aus unglaublich konzentrierten Magnetlinien, die so genannte Io-Flussröhre. Sie war mit dem magnetischen Nord- und Südpol des Jupiter verbunden und rief dort wilde Polarlichter hervor; in den Hörnern der
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