Ilium
seinem Gesicht zeichnen sich Schmerz, Angst und Wut ab – mit anderen Worten, er wirkt geradezu menschlich.
An der langen weißen Wand erheben sich riesige, mindestens sechs Meter hohe Bottiche mit einer sprudelnden violetten Flüssigkeit, diversen Nabelschnüren, Fäden und … Göttern darin: hoch gewachsenen, gebräunten, vollkommenen menschlichen Gestalten in verschiedenen Stadien der Rekonstruktion oder der Zersetzung. Ich sehe offene Organhöhlen, weiße Knochen, gestreiftes rotes Fleisch, das Übelkeit erregende Aufblitzen bloßer Schädelknochen. Die anderen Göttergestalten erkenne ich nicht, aber im übernächsten Tank schwebt Aphrodite, nackt, mit geschlossenen Augen und wehendem Haar. Ihr Körper ist vollkommen, abgesehen davon, dass ihr vollkommenes Handgelenk und die vollkommene Hand beinahe von ihrem vollkommenen Arm abgetrennt sind. Ein brodelnder Schwarm grüner Würmer kreist spiralförmig um die dortigen Bänder, Sehnen und Knochen, verschlingt sie oder vernäht sie oder beides. Ich wende den Blick ab.
Zeus betritt den langen Raum und schreitet majestätisch zwischen medizinischen Monitoren ohne Skalen hindurch, vorbei an Robotern mit einer Art synthetischer Haut und an Göttern, die ihm zu Ehren den Kopf neigen und beiseite treten. Einen Moment lang dreht der riesige Gott den Kopf in meine Richtung, die erschreckenden Augen unter den grauen Brauen schauen direkt in mich hinein, und ich weiß, ich bin entdeckt worden.
Ich warte auf den zeusschen Blitz und Donner. Er bleibt aus. Zeus wendet sich ab – lächelt er? – und macht vor Ares Halt, der immer noch zusammengesunken zwischen schwebenden Maschinen und Roboterdingern, die sich um seinen Körper kümmern, auf dem Untersuchungstisch hockt.
Zeus steht mit verschränkten Armen vor dem verletzten Gott, die Toga in dekorative Falten gelegt, den Kopf gesenkt, nur gestutzter grauer Bart und wuchernde graue Augenbrauen; seine bloße Brust strahlt bronzenes Licht und Kraft aus, seine Miene ist grimmig – eher ein verärgerter Schulrektor als ein besorgter Vater, würde ich sagen.
Ares spricht zuerst. »Macht dich der Anblick solch blutiger, menschlicher Gewalttat nicht wütend, Vater Zeus? Wir sind die unsterblichen Götter, aber Herrgott noch mal, immer müssen wir wegen unserer göttlichen Streitereien – einer nach dem Willen des anderen – Ungerechtigkeiten und Beleidigungen ertragen, sobald wir diesen stinkenden Sterblichen einen Gefallen erweisen. Und als wäre es nicht schon schlimm genug, dass wir gezwungen sind, gegen diese sterblichen Mistkerle in ihrem Nano-Wahn zu kämpfen, müssen wir auch noch mit dir hadern.«
Ares holt Luft, verzieht vor Schmerzen das Gesicht und wartet. Zeus schweigt, schaut aber weiterhin finster drein, als dächte er über die Worte des Kriegsgottes nach.
»Und Athene«, keucht der verwundete Gott. »Das Mädchen ist zu weit gegangen, und du hast es nicht verhindert, Kronide. Seit du sie gezeugt hast – dieses Kind des Chaos und der Zerstörung –, hast du sie immer gewähren lassen und ihr alles nachgesehen. Und nun hat sie den sterblichen Diomedes zu einer ihrer Waffen gemacht und ihn aufgereizt, gegen uns Götter zu rasen.«
Ares ist jetzt aufgeregt und wütend. Speichel sprüht. Ich sehe die blaugrauen Schlingen seines Gedärms in goldenem Blut.
»Zuerst hat sie diesen … diesen … Sterblichen aufgehetzt, Aphrodite an der Hand beim Knöchel zu verwunden und ihr göttliches Blut zu vergießen. Von den Helfern des Heilers habe ich erfahren, dass sie zur Genesung einen ganzen Tag im Bottich bleiben muss. Dann hat Athene Diomedes aufgestachelt, mich selber zu bestürmen – mich, den Gott des Krieges –‚ und sein nanoverstärkter Körper war so schnell, dass er mich, wäre ich nicht noch schneller gewesen, für Tage oder gar Wochen in den Bottich gebracht hätte; vielleicht hätte ich sogar wiederauferweckt werden müssen! Wenn er mit seiner Speerspitze nach meinem Herzen gezielt hätte, würde ich mich immer noch unter den menschlichen Leichen dort unten winden und noch mehr Schmerzen ertragen als jetzt schon, oder ich lebte kraftlos fort von den Stößen des Erzes wie ein Geist aus unserer alten Zeit auf der Erde, und …«
»ES REICHT!«, brüllt Zeus und unterbricht damit nicht nur Ares’ Tirade, sondern lässt auch jeden Gott und Roboter im Raum erstarren. »Ich will kein weiteres Gewinsel von dir hören, Ares, du lügenhafter, falscher, hinterhältiger Spatzenfurz, du Jammerlappen in
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