Ilium
die Muse nur zwei Meter von mir entfernt aus dem Nichts auftaucht und die Kasernentür öffnet. Ich bin erstaunt. Die Muse ist noch nie zur Kaserne gekommen; wir fahren immer mit der gläsernen Rolltreppe zu ihr hinauf.
Im Schutz der wie auch immer gearteten Hades-Technik, die mich verbirgt, folge ich ihr in den Gemeinschaftsraum.
»Hockenberry!«, brüllt sie mit ihrer kraftvollen Göttinnenstimme.
Ein jüngerer Scholiker namens Blix, ein Homer-Forscher aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert, dem die Nachtschicht bei Ilium übertragen worden ist, kommt aus seinem Zimmer im Erdgeschoss, reibt sich die Augen und macht ein verblüfftes Gesicht.
»Wo ist Hockenberry?«, will meine Muse wissen.
Blix schüttelt den Kopf, das Kinn klappt ihm herunter. Er schläft in Boxershorts und einem fleckigen Unterhemd.
»Hockenberry!«, wiederholt die ungeduldige Muse. »Nightenhelser sagt, er sei nach Ilium gegangen, aber dort ist er nicht. Bei mir hat er sich auch nicht gemeldet. Hast du hier einen Scholiker von der Tagschicht vorbeikommen sehen?«
»Nein, Göttin«, sagt der arme Blix und neigt den Kopf, eine Geste, die so etwas wie Ehrerbietung ausdrücken soll.
»Geh wieder ins Bett«, sagt die Muse angewidert. Sie marschiert hinaus, schaut zum Ufer hinunter, wo die grünen Männchen mühsam ihre Steinköpfe aus dem Steinbruch schleppen, und qtet dann mit dem leisen Floppen einströmender Luft davon. Ich könnte ihrer Spur durch den Phasenverschiebungsraum folgen, aber … wozu? Sie will offenkundig den Helm und das Medaillon zurückhaben. Solange Aphrodite im Bottich liegt, bin ich für sie ein Risikofaktor – ich wette, außer Aphrodite weiß nur die Muse, dass ich mit diesen Gerätschaften zum Spion ausgerüstet worden bin.
Und vielleicht weiß nicht einmal die Muse, wozu Aphrodite mich benutzen will …
Um Athene zu bespitzeln und sie dann zu töten.
Warum? Selbst wenn Zeus’ harsche Worte an seinen Sohn, Ares, der Wahrheit entsprechen – dass Götter den Echten Tod sterben können –, ist es möglich, dass ein bloßer Sterblicher sie umbringt? Diomedes hat sich heute alle Mühe gegeben, zwei Götter zu töten.
Und es ist ihm gelungen, sie außer Gefecht zu setzen. Jetzt schwimmen sie in Bottichen, und grüne Würmer werkeln an ihnen herum.
Ich schüttle den Kopf. Auf einmal bin ich sehr müde und sehr verwirrt. Erst vor vierundzwanzig Stunden habe ich beschlossen, den Göttern zu trotzen, aber damit ist es nun vorbei. Spätestens morgen um diese Zeit wird Aphrodite dafür sorgen, dass man mir das Lebenslicht ausbläst.
Wo kann ich hin?
Ich kann mich nicht sehr lange vor den Göttern verstecken, und wenn deutlich wird, dass ich es versuche, macht Aphrodite noch viel eher Strapse aus meinen Eingeweiden. Sobald die Göttin der Liebe morgen wieder auf den Beinen ist, wird sie zu mir kommen – mich suchen.
Ich kann zum Schlachtfeld unterhalb von Ilium zurückqten und mich dort von der Muse finden lassen. Damit fahre ich vielleicht am besten. Selbst wenn sie mir die Ausrüstung abnimmt, wird sie mich wahrscheinlich am Leben lassen, bis Aphrodite aus dem Bottich entlassen wird. Was habe ich zu verlieren?
Einen Tag. Aphrodite wird einen Tag lang im Bottich sein, und keiner der anderen Götter kann mich sehen oder finden, bis sie wieder da ist. Einen Tag.
Im Endeffekt habe ich noch einen Tag zu leben.
Angesichts dieser Tatsache entscheide ich mich schließlich, wohin ich gehe.
16
Südpolarmeer
Die vier Reisenden beschlossen, doch etwas zu essen.
Savi verschwand für ein paar Minuten in einem ihrer beleuchteten Tunnels und kam mit warmen Speisen zurück – Hähnchen, gekochter Reis, mit Curry gewürzte Paprikaschoten und Lammgeschnetzeltes vom Grill. Obwohl die vier sich erst vor ein paar Stunden in Ulanbat den Bauch voll geschlagen hatten, aßen sie nun mit Begeisterung.
»Wenn ihr müde seid«, sagte Savi, »könnt ihr heute Nacht hier schlafen, bevor wir aufbrechen. In einigen Räumen in der Nähe gibt es komfortable Schlafbereiche.«
Sie erklärten alle, sie seien nicht müde – nach Paris-Krater-Zeit war es erst später Nachmittag. Daeman schaute sich um, schluckte etwas von dem gegrillten Lamm hinunter, auf dem er herumkaute, und fragte: »Weshalb wohnst du in einem …« Er wandte sich an Harman. »Wie hast du es genannt?«
»Eisberg«, sagte Harman.
Daeman nickte und drehte sich kauend wieder zu Savi um. »Weshalb wohnst du in einem Eisberg?«
Sie lächelte. »Dieses spezielle Zuhause
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