Illusion - das Zeichen der Nacht
wieder. Jetzt war das Licht, das von draußen hereinfiel, wieder blasser. Erstaunt sah sie aus dem Fenster. Draußen war plötzlich alles nicht mehr in aprikosenfarbenes, sondern in graues Licht getaucht. Sie sah nach oben, zum Himmel. Dort war nichts, nur eine bleigrau schimmernde Fläche, die zunehmend dunkler wurde.
Als sie diesen düsteren Himmel ansah, wurde Jana mit einem Mal von irrationaler Angst überfallen. Sie schrie.
—
Ihre Lider fühlten sich an, als wären sie aus Erde und würden an den Wimpern zu Sand zerbröseln. Sie machte die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis das Bild scharf war.
Vor ihr saß ein Mann und blickte sie an. In seiner Miene spiegelte sich eine Traurigkeit, die Jana sich nicht erklären konnte. Seine grünen Augen hatten etwas Strenges, das so gar nicht zu seinem jugendlichen Körper und seinem sympathischen Äußeren passte.
»Wer bist du?«, fragte Jana. Ihre Zunge bewegte sich ungeschickt, als spräche sie eine fremde Sprache. In gewisser Weise war das auch so, denn jedes Wort überraschte sie, als hörte sie es zum ersten Mal; oder vielmehr, als weckte es die Erinnerung an ein Wort, das im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses vergraben war.
»Es ist egal, wer ich bin, entscheidend ist, wer du bist.« Der Mann sah ihr fest in die Augen. »Weißt du das noch?«
Jana versuchte, sich zu erinnern. Zuerst war das Licht warm und rosig gewesen, dann war alles grau wie Asche geworden. Und darüber war sie furchtbar erschrocken.
Sie sah sich um. Jetzt schien der Schatten, in den alles getaucht war, noch dichter zu sein als vorher. Das Zwielicht war nicht mehr hellgrau, sondern dunkel und trübe, ein undefinierbarer Farbton, der in den Ecken in Schwarz überging.
Wieder lief ihr derselbe Angstschauder über den Rücken, der ihr vorhin einen fast tierischen Schrei entlockt hatte. Angstvoll suchte sie den Blick des Mannes, der sie nicht aus den Augen ließ. »Tut mir leid, ich habe vergessen, was du wissen wolltest«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Könntest du deine Frage wiederholen?«
»Ich habe dich gefragt, wer du bist«, erwiderte der Mann. Die Falten auf seiner Stirn waren tiefer geworden. »Komm, du musst es mir sagen.«
Auf der Suche nach einer Antwort blickte Jana sich noch einmal um. In diesem Raum gab es viele Gegenstände. Manche erkannte sie wieder, sie wusste sogar, wozu sie benutzt wurden. Aber nicht alle. Auffällig war ein durchscheinendes Rechteck, das in der Wand vor ihr ausgespart war. Ein Fenster. Und darunter ein Bett, in dem ein Junge schlief. Oder vielleicht schlief er doch nicht … Er zitterte stark und sah krank aus.
»Du lässt dich ablenken«, tadelte der Mann in ungeduldigem Ton. »Dafür ist keine Zeit. Du musst dich erinnern. Du musst mir sagen, wer du bist.«
Jana zuckte die Achseln und lächelte wie ein kleines Mädchen. »Ich weiß es nicht. Sag du’s mir doch, du weißt doch alles …«
»Das würde nichts nützen. Du musst dich selbst daran erinnern. Wenn du es nicht freiwillig tust, muss ich dich zwingen. Und das ist nicht besonders angenehm, das kannst du mir glauben.«
Jana sah ihn gleichgültig an. Dann kehrten ihre Augen zu dem schlafenden Jungen zurück. Auf seiner Brust ruhte etwas Dunkles und hob und senkte sich im Rhythmus seines Atems.
Fasziniert weiteten sich ihre Augen. Da war die Antwort, die der Mann von ihr verlangte. Nein; es war etwas anderes … Etwas, das bewirken würde, dass der Mann sie in Ruhe ließ. Etwas, das alle Fragen überflüssig machte.
Sie versuchte aufzustehen, aber sofort wurde ihr schwarz vor Augen. Sie musste sich wieder hinsetzen. Das passte ihr gar nicht, sie wollte dieses schwarze Etwas anfassen. Sie musste wissen, wie es sich anfühlte, jetzt gleich. Erst dann würde der Mann sie in Ruhe lassen.
Sie streckte eine Hand nach dem schlafenden Jungen aus.
»Nein«, sagte der Mann, der vor ihr saß, ohne die Stimme zu heben. Sein Ton war sanft, selbstsicher, von einer seltsamen Autorität durchdrungen.
Jana zog die Hand zurück und legte sie wieder in ihren Schoß. Ihre Augen hefteten sich auf das Gesicht des Unbekannten, stellten ihm eine stumme Frage.
»Das ist gut«, sagte der Mann. »Jetzt wirst du neugierig. Du willst wissen, wer ich bin … Das ist gut«, sagte er noch einmal.
Jana nickte halbherzig. Ihr war immer noch ein bisschen schwindlig. Die Schatten, die über die Möbel krochen, verursachten ihr körperliches Unbehagen, eine Leere im Magen und sie fühlte sich, als müsste sie
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