Illusion - das Zeichen der Nacht
mattes, fernes Licht flackerte. Als wäre darin ein Meer aus Finsternis, auf dem David hilflos dahintrieb und mit einer Spielzeugtaschenlampe SOS-Signale sendete.
Jana schlug die Hände vors Gesicht und versuchte erst gar nicht, die Tränen zurückzuhalten. Gegen diese Finsternis konnte sie nicht kämpfen. Ihre Magie würde nicht ausreichen, es mit so viel Leid aufzunehmen.
Sie konnte David nicht helfen.
Ihr ganzer Körper wurde vom Schluchzen geschüttelt und das Salz ihrer Tränen brannte auf ihren Wangen. Jetzt hatte sie alle beide verloren: Alex und ihren Bruder. Und das Schlimmste war, dass sie es nicht einmal hatte kommen sehen: Sie war zu beschäftigt gewesen mit ihren Plänen, mit ihren Versuchen, die Ereignisse zu ihren Gunsten zu lenken, ihre eigene Zukunft und die ihres Klans zu beeinflussen. Wozu bloß? Was lag ihr jetzt noch an der Zukunft, nachdem sie die beiden einzigen Wesen auf der Welt, die ihr etwas bedeuteten, verloren hatte?
In ihr Schluchzen mischte sich ein zynisches, bitteres Auflachen. Ihr war gerade wieder Argos spöttisches Gesicht eingefallen, als er ihr vom Buch der Schöpfung erzählt hatte. Er war an allem schuld. Wenn er sich an Alex und ihr hatte rächen wollen, dann war ihm das voll und ganz gelungen.
Aber ihre eigene Schuld war noch größer als Argos, schließlich war sie ihm in die Falle gegangen. Dabei hatte sie doch gewusst, dass sie ihm nicht über den Weg trauen durfte. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass er seine wahren Absichten bestens getarnt hatte – es war ihr ganz einfach egal gewesen. Sie hatte sich überschätzt, sich für schlauer gehalten als der alte Wächter. Sie war überzeugt gewesen, sie könnte alles haben: das Buch, Alex … und sogar Erik, wenn die Prophezeiung in Erfüllung ging.
Wie immer kam ihre Reue zu spät. Jetzt nützte es nichts mehr, sich zu beklagen: Die Grausamkeit, die sie in den Augen des Nosferatu gesehen hatte, kannte keine Grenzen; die Zerstörung, die sie an Davids Gesicht ablas, war endgültig, nicht mehr rückgängig zu machen.
Diesmal hatte sie verloren. Und es würde keine Rache geben. Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie begriff, dass das hier ihre letzte Schlacht gewesen war. Das Einzige, was die Zukunft jetzt noch für sie bereithielt, war Leiden. Und sie wollte nicht länger leiden.
Ihre Augen hefteten sich wieder auf die Leere, die Davids Hand geschluckt hatte.
Es gab einen Weg, das Leiden zu beenden.
Wenn die alten Legenden stimmten, war dieses Loch in der Wirklichkeit, das Heru in den Körper ihres Bruders gerissen hatte, ansteckend. Wenn sie es berührte, wenn sie nah genug heranging, würde dieses Nichts auf sie überspringen. Sie würde das Gedächtnis verlieren. Die Erinnerung an alle Symbole. Nichts würde mehr eine Bedeutung für sie haben.
Das war genau das, was sie wollte.
Zitternd streckte sie beide Hände nach der Leere am Ende von Davids Arm aus. Es war eine greifbare Leere, so fest wie eine richtige Hand, aber eben unsichtbar, in tiefster Finsternis verborgen.
Sie schloss die Finger um dieses Loch aus Schatten, zog es an die Brust und drückte es an ihr Herz.
Es war eiskalt. Die Kälte ließ zuerst ihre Finger taub werden, dann die Haut über der Brust und danach ihre ganze linke Seite, vom Hals bis zur Taille. Es war eine angenehme Kälte, ein Kribbeln, das sie seltsam schläfrig machte. So, dachte sie, musste es sich anfühlen, wenn man sich hoffnungslos im Schnee verirrt hatte, kurz bevor man erfror.
Immer weiter breitete sich die Kälte in ihr aus. Sie ließ ihre Gedanken gefrieren, ließ ihr nur ein vages Bewusstsein, dass sie noch am Leben war. Ihr war auch klar, dass die Zeit nicht stehen geblieben war. Sie zerrann unendlich langsam, aber diese Langsamkeit machte ihr keine Angst mehr. Sie dachte nicht an die Zukunft, dieses Wort hatte keinerlei Bedeutung mehr für sie. Und auch die Vergangenheit nicht.
Von nun an würde sie nur im Jetzt leben, überrascht sein über jeden neuen Schlag ihres Herzens, als wäre es der allererste, ohne daran zu denken, dass sie eine Sekunde zuvor bereits genau dasselbe erlebt hatte.
Irgendwann wurde das dämmrige Licht im Raum violett und dann aprikosenfarben. Jana lächelte verwundert. Sie verstand nicht, warum das Licht die Farbe wechselte, aber es war schön.
Neben ihr, auf einem weichen weißen Rechteck, lag ein Junge mit geschlossenen Augen. Er zitterte am ganzen Körper.
Jana fragte sich, warum er zitterte, vergaß ihre eigene Frage aber sofort
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