Illusion - das Zeichen der Nacht
sein entsetzliches Gesicht und seine blutroten Augen noch schwerer ertragen. »Der Saphir wiegt mehr: Dein Machthunger ist viel stärker als deine Liebe. Du hast mich verraten …«
Das Schlimmste an dieser gekränkten, anklagenden Stimme war, dass sie wie Gift in ihre Seele sickerte und alles verseuchte. Es war die Stimme eines Opfers, voller Vorwürfe und Eifersucht. Eine Stimme, die ätzend war wie Schwefelsäure, sich bis in den letzten Winkel von Janas Bewusstsein filterte und ihr Denken lähmte.
»Ich … ich liebe dich«, war das Einzige, was ihr einfiel. »Das habe ich dir schon oft gezeigt.«
»Du lügst«, stieß Alex hervor. Seine Stirn war bedrohlich gerunzelt. »Das glaubst du doch nicht mal selbst.«
Eine absurde Wut stieg in Jana auf und mischte sich mit ihrem Schmerz. »In der heiligen Höhle wollte ich mein Leben für dich geben«, brachte sie leise vor. »Wie kannst du das vergessen?«
»Wahrscheinlich wolltest du nicht mich retten, sondern ihn …«
»Erik?« Janas Wangen glühten vor Empörung. »Jetzt spinnst du aber.«
»Aha. Und habe ich auch gesponnen, als ich gesehen habe, wie ihr euch in der heiligen Höhle geküsst habt? Du bist eine …«
»Halt den Mund! Das war eine Vision, Alex. Eine symbolische Vision, verdammt noch mal. Du darfst die Symbole doch nicht mit der Realität verwechseln!«
»Dann ist es ja sogar noch schlimmer, als ich dachte. Dieser Kuss war ein Symbol? Ein Symbol wofür, Jana?«
Einen Moment lang war das Mädchen völlig verwirrt. Auf diese Frage wusste sie keine Antwort. Sie erinnerte sich ganz deutlich, was sie empfunden hatte, als sie Eriks Lippen berührt hatte: ein so tiefes, überwältigendes Gefühl, dass sie es ein paar Sekunden lang für Liebe gehalten hatte …
Sie sah Alex lange in die Augen in der Hoffnung, dadurch würde sich etwas ändern, er würde sich wieder daran erinnern, was sie füreinander gewesen waren und was sie wieder füreinander sein konnten.
Aber in Alex’ Augen stand nur Hass geschrieben, ein blinder, grausamer Hass, der älter war als ihre Liebe, älter als alles andere. Ein Hass, so uralt wie die Welt.
Auf einmal begriff Jana. Dieser Hass war in Wirklichkeit nicht gegen sie gerichtet, sondern gegen Alex selbst, gegen den dunkelsten, aggressivsten Teil seiner selbst; eine destruktive Kraft, die in ihm schlummerte und die nicht einmal er verstand.
Das Buch des Todes. Vielleicht trugen alle Menschen ein Exemplar davon mit sich herum. Aber nur manche, die mutigsten, wagten es, es ans Licht zu holen, sich den eigenen Dämonen zu stellen.
Und sie selbst? Es war leicht, der Logik dieses vernichtenden Hasses zu erliegen, den Alex über ihr auskippte, denn in ihrer Seele schlummerte genauso viel Zerstörerisches wie in der von Alex. Sie hatte mehr Gründe als genug, ihm böse zu sein. Er war unfair und undankbar. Er legte alles, was sie getan hatte, absichtlich falsch aus, bloß um es im dunkelsten Licht zu sehen. Er hasste sie.
Sie konnte ihn auch hassen.
Vor allem hasste sie ihn, weil er sie zwang, sich von ihrer schlimmsten Seite zu zeigen. Weil er sie zwang, sich gegen Vorwürfe zu verteidigen, in denen sie ein Körnchen Wahrheit erkennen konnte. Es stimmte, sie kämpfte gern für das, woran ihr etwas lag; sie hatte einen ausgeprägten Ehrgeiz. Ihr Leben beschränkte sich nicht darauf, verliebt zu sein und mit einer rosaroten Brille durch die Welt zu laufen, ohne sich um etwas anderes zu kümmern.
Sie konnte auf seinen Hass reagieren, indem sie ihn ebenfalls angriff, sie konnte sich von seinem Gift anstecken lassen und zu einem Ungeheuer werden.
Oder ihre Dämonen besiegen. Irgendwo in ihr schlummerte das Buch des Lebens.
Jetzt begriff sie, dass es sich dabei nicht um eine hermetische Schrift handelte, die nur eine mächtige Zauberin entziffern konnte. Genau wie sein Gegenpart, das Buch des Todes, steckte es in allen Menschen. Aber um es zu lesen, brauchte man noch mehr Mut und vor allem mehr Vertrauen. Mehr Vertrauen zum menschlichen Herzen, zu den anderen und zu sich selbst.
Es war, als wehe auf einmal ein frischer Wind durch ihr Bewusstsein und fege den Staub und die Spinnweben fort. Jetzt konnte sie alles ganz klar sehen. Alex’ Hass war noch da, verkörpert in der monströsen Erscheinung des Nosferatu, und auch die Waage stand noch vor ihr. Aber jetzt konnte sie manche Feinheit wahrnehmen, die ihr bisher entgangen war.
Als Erstes bemerkte sie, dass es sich bei dem Saphir nicht um eine Illusion handelte, sondern um
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