Illusion - das Zeichen der Nacht
sich beides über die Schulter. Dann richtete sie sich auf und sah Garo noch einmal fest an. Ganz allmählich begann sich in ihrem blassen Gesicht ein trauriges Lächeln abzuzeichnen. »Mach dir keine Gedanken«, erwiderte sie. »Mach dir keine Gedanken, Garo. Ich bin sicher, er wird es verstehen.«
Kapitel 3
J ana ging weiter zwischen den Säulen mit den Hieroglyphen hindurch, auf die Stelle zu, wo die Schatten herkamen, am anderen Ende der Wand, auf der einst Arawn die ersten Seiten des Buchs der Schöpfung gelesen hatte. Diese ging hinter den Säulen im rechten Winkel in eine Mauer über, in deren Mitte ein dunkles Rechteck den Eingang markierte. Mit klopfendem Herzen, aber entschlossen steuerte Jana darauf zu.
Mit einem Schritt über die Schwelle betrat sie den Tempel. Es war ein dämmriger, rechteckiger Raum, der der Länge nach von zwei Reihen von Säulen unterteilt wurde. Jana konnte nur deren Umrisse erkennen, sie zeichneten sich schwarz gegen die Dunkelheit ab, die einzig und allein von einem schwachen Funkeln am anderen Ende des Hauptraums erhellt wurde.
Als sie zwischen zwei Säulen hindurchging, war plötzlich rasches Flügelschlagen zu hören. Vor Schreck zuckte sie zusammen. Ein großer Vogel mit weißem Körper und langem schwarzem Hals flog majestätisch über ihren Kopf hinweg. Jana erkannte ihn sofort an seinem sichelförmig gebogenen Schnabel: ein Ibis.
Er ließ sich unter der Gewölbedecke auf einem vorspringenden Säulenkapitell in Form einer offenen Lotosblüte nieder und beobachtete sie ungerührt von dort oben.
Ein heiliger Ibis. Der Vogel, den sie bei der Anrufung, die dann zu jener unheilvollen Vision mit dem Kuss in der heiligen Höhle geführt hatte, als Symbol für Alex gewählt hatte. Nur dass dieses Symbol hier lebendig war, ein Vogel, der atmete und einen eigenen Willen hatte.
Jana schluckte, um den Kloß loszuwerden, der ihr den Hals abschnürte, und ging weiter. Je tiefer sie in den Tempel eindrang, desto deutlicher war der schimmernde Gegenstand vor der hinteren Wand zu sehen. Bald erkannte sie, dass es sich um eine Waage handelte, ein altes Modell mit zwei goldenen Schalen, die an glitzernden Kettchen von einer waagrechten Stange herabhingen. Sie stand auf einem Tisch aus Stein oder genauer gesagt auf dem obersten Stein einer abgeschlagenen Säule, einem Kapitell in Form einer Lotosblüte.
Jana erschrak, als sie eine Bewegung über der Waage wahrnahm. Zwei grausige Feueraugen hefteten sich auf sie. In die rubinroten Iris waren schwarze Vögel eingeschrieben.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
In Alex’ pergamentartigem, mit Tattoos überzogenem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. »Du kommst pünktlich zum Gericht«, sagte er mit seiner vertrauten Stimme, die Jana so oft gehört hatte, wenn sie beide nachts eng umschlungen das Vorrücken der Schatten beobachtet hatten. »Sieh dir die Waage an. Ihr Urteil ist klar: schuldig.«
Erst jetzt bemerkte Jana die beiden Gegenstände, die auf den Waagschalen lagen. Der Anblick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: Der eine war der Sarasvati-Saphir und der andere …
Der andere war ein menschliches Herz, ein lebendes Herz, das schlug und mit Blut überströmt war.
Instinktiv fasste Jana sich an die Brust. Sie spürte nichts, nicht die leiseste Regung. Es war, als wäre ihr Herz stehen geblieben. Oder vielmehr, als wäre es gar nicht mehr da.
Sie betrachtete weiter das blutige Organ in der Waagschale. Ihr war bewusst, dass es nur eine Illusion war, hervorgerufen durch einen mächtigen Zauber. Ihr Herz befand sich noch an seinem Platz, auch wenn sie es nicht hören konnte. Diese triste, rote, unförmige Masse war nicht ihr echtes Herz, sosehr dieser Anblick Jana auch verstörte.
Alex hatte über sie gerichtet und sie für schuldig befunden. Alex, nicht der Nosferatu. Die Waage symbolisierte die Beziehung zwischen ihnen beiden, ihre Liebesgeschichte. Der blaue Stein gegen das rote Herz.
Und der Stein wog schwerer als das Herz, obwohl er viel kleiner war.
Jana wurde von Angst gepackt. In diesem Moment hätte sie alles darum gegeben, weit weg zu sein, diesem Zerrbild ihrer selbst, das Alex ihr mit der Waage vorhielt, so schnell wie möglich den Rücken zu kehren; doch aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht abwenden. Es war, als zwinge ein Zauber sie, immer weiter hinzusehen.
»Der Saphir steht für deinen Ehrgeiz und das Herz für deine Liebe zu mir«, sprach Alex weiter. Der vertraute Klang seiner Stimme ließ sie
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