Illusion - das Zeichen der Nacht
ehrgeiziges Mädchen und beobachtest voller Missmut, wie dein Klan in dieser absurden Welt kein Bein mehr auf den Boden bekommt. Wenn du die Wahl hättest, würdest du die Dinge ändern, da bin ich sicher. Du würdest etwas für deine Leute tun, ihnen etwas von dem zurückgeben, was sie durch Alex’ Entscheidung verloren haben. Nicht nur den Agmar, vielleicht auch den übrigen Medu.«
Argo unterbrach sich, als er bemerkte, dass sich auf Janas Gesicht Verwirrung breitmachte. Einige Sekunden lang beobachtete er zufrieden die Wirkung seiner Worte. »Gib wenigstens eins zu: Wenn es dieses Buch wirklich gibt, hättest du es nicht gern, dass es jemand anderem als dir in die Hände fällt.«
Jana sprang auf, kehrte Argo den Rücken und ging auf eine Vitrine voller Fächer, Puderdosen und anderen Gegenständen aus vergangenen Jahrhunderten zu. Sie versuchte, sich auf diese Antiquitäten zu konzentrieren, um sich zu beruhigen.
»Was schlägst du mir vor?«, fragte sie schließlich, die Augen fest auf eine emaillierte Schnupftabakdose gerichtet. »Denn du willst mir doch sicher einen Vorschlag machen.«
»Hol mich hier raus.« Zum ersten Mal war Argo anzuhören, dass er Angst hatte. »Mir bleibt kaum noch Zeit und das Einzige, was mich retten kann, ist dieses Buch. Ich weiß, wo es ist, aber um es zu finden, muss ich hier raus und nur du kannst mir helfen. Befrei mich, dann bringe ich dich zu ihm. Ich werde das Buch benutzen, um wieder unsterblich zu werden, und dann … Es ist mir egal, was du damit machst, du kannst es behalten.«
Jana löste den Blick von der Vitrine und heftete ihn wieder auf ihren früheren Feind. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie herausfordernd. »Die Geschichte mit dem Buch kann nicht stimmen. Das ist nur ein plumper Trick, damit ich dir zur Flucht verhelfe.«
»Sie kann nicht stimmen?«, wiederholte Argo spöttisch. »Weil das Buch alles über den Haufen werfen würde, richtig? Das verstehe ich; es braucht viel Mut, um sich einer derartigen Sensation zu stellen. Vielleicht habe ich mich getäuscht, als ich dir diesen Mut zugetraut habe.«
»Versuch mich nicht zu manipulieren, indem du mich kränkst. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, ich werde nicht in diese Falle tappen.«
Argos Blick wurde stechend. Janas Widerstand stellte seine Geduld auf eine harte Probe, auch wenn er sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. »Na gut«, sagte er unwirsch. »Du willst Tatsachen, keine Worte. Du hast es so gewollt, hier hast du deine Tatsachen … Sekunde.«
Er griff sich mit der rechten Hand an den linken Flügel und tastete suchend zwischen den verbrannten Federn. Dann war ein schmatzendes Geräusch zu hören. Das, was er sich herausgerissen hatte, hielt er Jana mit zitternder Hand hin.
Ihr wurde speiübel, als sie begriff, was es war: Als Argo in der heiligen Höhle aufgetaucht war, waren seine Flügel mit wunderschönen goldenen Augen übersät gewesen, echten Augen, die sehen konnten. Und nun waren davon nur noch speckige schwarze Kugeln übrig.
Janas Hand zitterte auch, als sie das verkohlte Auge entgegennahm. »Wozu …?«
»Du musst es schlucken. Heute Nacht, wenn du allein in deinem Zimmer bist. Dann wirst du eine Vision haben, die dich davon überzeugt, dass ich die Wahrheit sage. Sie wird alle deine Fragen beantworten.«
Jana starrte das Auge argwöhnisch an. »Und woher weiß ich, dass du mich nicht reinlegst? Du könntest … du könntest versuchen, mich zu vergiften …«
Argo sah sie kopfschüttelnd an. »Wenn ich dich vergiften wollte, hätte ich das längst getan. Begreifst du denn nicht, was das ist? Jetzt mach es doch endlich sauber!«
Jana rieb die kleine Kugel mit den Fingern ab. Der Ruß blieb an ihrer Haut haften und darunter kam die perlmuttfarbene, elastische Oberfläche zum Vorschein. Konzentriert wischte sie weiter den Schmutz ab, bis mitten auf der weißen Kugel ein durchscheinender blau-goldener Kreis auftauchte – mit einem stecknadelkopfgroßen dunklen Fleck in der Mitte.
Vor Schreck hätte sie das Auge beinahe fallen gelassen.
»Heute Nacht«, wiederholte der Wächter langsam. »Du musst es schlucken. Nur so wirst du erfahren, ob ich die Wahrheit sage. Und jetzt lass mich allein, ich bin müde. Todmüde.«
Kapitel 9
A ls Jana wieder in die Küche kam, saßen Corvino und Nieve am Tisch und warteten schon auf sie. Auf der karierten Tischdecke stand – noch dampfend – eine Porzellanschüssel mit den Tagliatelle und der Pilzsoße.
Jana setzte sich
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