Illusion - das Zeichen der Nacht
haben die Varulf eine Absprache mit Argo getroffen, in der du auch eine Rolle spielst. Wenn du uns nicht erzählst, was du weißt, können wir dir nicht helfen.«
Nieve hatte die Hand zurückgezogen, mit der sie Jana am Gehen gehindert hatte. Offenbar wollte sie sie nicht länger zurückhalten.
»Na gut«, sagte die junge Agmar und stand mit einem Ruck auf. »Wenn ihr mir nicht helfen wollt, komme ich auch alleine klar. Das bin ich schließlich gewöhnt. Ich hoffe nur, ihr müsst die Entscheidung, die ihr gerade getroffen habt, nicht irgendwann bereuen.«
—
Als Jana in ihrem Zimmer war, schlüpfte sie aus ihren Schuhen und schleuderte sie mit einem Tritt von sich. Ihre Jeans saß so eng, dass sie daran zerren musste, um sie auszubekommen, und dadurch steigerte sich ihre schlechte Laune noch. Sie pfefferte die Hose auf einen Stuhl, riss den Schrank auf und starrte die wenigen Kleidungsstücke an, die auf den Bügeln hingen. Sie brauchte zehn Sekunden, um sich für ein schwarzes Kleid mit winzigen roten Pünktchen zu entscheiden, die ihr immer wie Blutstropfen vorgekommen waren. Sie zog es direkt vor dem Spiegel an, dann prüfte sie mit kritischem Blick ihr Spiegelbild, das mit funkelnden Lichtflecken vom Kanal überzogen war. Das Kleid stand ihr super.
Sie wollte so gut wie möglich aussehen, wenn sie mit Alex sprach. Er sollte nicht merken, wie schlecht es ihr ging und wie viel es ihr ausmachte, dass er nicht da war. Sie würde versuchen, ihre Stimme neutral klingen zu lassen, weder zu liebevoll noch zu anklagend. Erst einmal wollte sie ihm nicht den Gefallen tun, ihm zu zeigen, wie besorgt sie um ihn gewesen war. Allerdings war Alex in solchen Dingen so unaufmerksam, dass er es wahrscheinlich nicht mal merken würde.
Sie startete den Computer und wartete ungeduldig, bis er hochgefahren war. Jetzt war Alex bestimmt da. Sie musste mit ihm sprechen, ihm erzählen, was los war. Na ja, nicht alles … Ihr Schwur vor Argo hinderte sie daran, ganz offen zu sein, auch Alex gegenüber. Aber selbst wenn sie ihm nicht alles sagen konnte, dann doch genug, damit er begriff, dass sie auf eine interessante Spur gestoßen war. Alex kannte Nieve und Corvino gut, hatte ja mehrere Monate mit ihnen zusammengelebt. Wenn er mit den Wächtern sprach, wenn er sich bei ihnen für sie einsetzte, erreichte er vielleicht, dass sie Argo anvertraut bekam. Nur so konnte sie definitiv herausfinden, was der alte Mann vorhatte.
Ein Blick auf das Videotelefonieprogramm genügte, um festzustellen, dass Alex nicht online war. Doch davon ließ sie sich nicht entmutigen: Dann würde sie ihn eben kurz anrufen und bitten, den Computer einzuschalten. Sie wollte ihn bei ihrem Gespräch vor sich haben, sein Gesicht sehen, wenn sie ihn fragte, was er gemacht hatte und wann er sich bei ihr hatte melden wollen.
Rasch wählte sie seine Nummer. Schon nach dem ersten Klingeln hörte sie die Computerstimme: besetzt. Alex sprach mit jemand anderem. Mit wem nur?
Verärgerter, als sie es sich eingestand, blickte sie wieder zum Bildschirm. Der zeigte ihr eine nicht zustande gekommene Verbindung an, vor einer knappen Stunde. David. Er hatte ihr eine Sofortnachricht hinterlassen: Ruf mich gleich an. Mir ist was ganz Komisches passiert.
Jana las die beiden kurzen Sätze noch mehrere Male. David war der größte Einzelgänger, den sie kannte. Wenn er versucht hatte, sie zu erreichen, musste es einen triftigen Grund geben.
Sie stellte ihre Wut auf Alex erst einmal zurück und klickte auf den Namen ihres Bruders in der Kontaktliste, dann auf den grünen Knopf, um den Anruf zu starten.
Es dauerte nicht lange, bis die Verbindung aufgebaut war. Zuerst sah sie sich selbst, wie sie mit finsterer Miene darauf wartete, dass ihr Bruder sich meldete, dann tauchte in einem kleineren Fenster das blasse, unruhige Gesicht von David auf. Nach zwei Sekunden nahm das kleine Fenster den ganzen Bildschirm ein. David trug einen dunklen Rollkragenpullover, als wäre ihm kalt. Wahrscheinlich hatte er vergessen, die Heizung aufzudrehen. Er achtete meist nicht allzu sehr auf seine körperlichen Bedürfnisse. Wenn Jana nicht da war, konnte es sein, dass er sich den ganzen Tag von nichts anderem ernährte als von Schoko-Shakes und tütenweise Kartoffelchips.
Davids grüne Augen leuchteten auf, als er seine Schwester sah. »Hey, Jana, du sieht ja klasse aus. Das alte Europa bekommt dir gut …«
»Das kann man von dir nicht behaupten. Im Ernst, du solltest dich mal kämmen.«
David
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