Illusion - das Zeichen der Nacht
grinste breit. »Du kannst es einfach nicht sein lassen, du musst immer die große Schwester spielen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das irgendwann mal sagen würde, aber ich hab’s richtig vermisst.«
Das entlockte Jana ein kleines Lächeln. »Ich saß grade beim Essen, als du angerufen hast. Mit Nieve und Corvino.«
»Es muss faszinierend sein, die Ferien mit den beiden zu verbringen. Wenn du es dir recht überlegst, findest du es dann nicht surrealistisch?«
Das Lächeln verschwand so rasch aus Janas Gesicht, wie es aufgetaucht war. »Ich mache hier keine Ferien«, rief sie ihrem Bruder in Erinnerung. »Heute fand Argos Übergabe statt. Sie wollten, dass ich vorher mit ihm rede, falls du das vergessen hast.«
David hielt den Kopf schräg. »Ach komm, so hab ich das doch nicht gemeint. Ich hoffe wenigstens, es hat sich gelohnt. Was wollte dieser Typ von dir?«
»Argo? Das darf ich dir nicht sagen. Er hat mich mit der Agmar-Formel schwören lassen, dass ich es für mich behalte.«
»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte David mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Er hätte auch so geredet, anscheinend lag ihm ja sehr viel dran.«
»Das konnte ich nicht riskieren. Er hat nicht mehr lange zu leben, David, und jede Verzögerung hätte bedeuten können, ihn, na ja, vielleicht nicht wiederzusehen. Ich fand es besser, es ihm leicht zu machen. Und ich glaube, das war gut so.«
»Dann hat es sich gelohnt.«
»Ich bin noch nicht sicher. Aber wenn was dran ist an dem, was er mir erzählt hat, könnte sich eine Menge ändern.«
Sie unterbrach sich, als sie sah, dass David seine rechte Hand in die Webcam hielt. »Das da auch?«, fragte er leise.
Jana starrte die Hand an, die unter einem schwarzen Handschuh verborgen war. Sie wusste gar nicht, wie sie wirklich aussah, und das war ihr auch lieber so. David zog den Handschuh nie aus, wenn sie dabei war. Aber sie bemerkte das steife Handgelenk, die starren Finger, wie leblose Anhängsel.
Davids rechte Hand, die, die er zum Arbeiten benutzt hatte, war bei seinem Kampf mit Heru, dem Wächter, der das Bogenschießen und die Kampfkunst beherrschte wie kein anderer, in der heiligen Höhle entsetzlich verstümmelt worden. Seither war es vorbei mit dem Zeichnen und Tätowieren. Ausgerechnet er, der ganz für seine Tattoos lebte, hatte sich gezwungen gesehen, seine Kunst aufzugeben. Es war so unfair, so grausam, dass Jana so wenig wie möglich daran zu denken versuchte.
David beklagte sich nie über sein Unglück. Deshalb war Jana überrascht, dass er mit dem verhassten Handschuh herumfuchtelte, wo er doch genau wusste, dass ihr schon beim bloßen Anblick das Herz schwer wurde.
»Ich hab dir ja geschrieben, dass mir was Komisches passiert ist.« David sah die Hand verwundert an. »Heute gegen Morgen hatte ich eine Vision, einfach so. Sie war unglaublich, die mächtigste Vision, die ich je erlebt habe. Darin habe ich wieder tätowiert, jemand Unsichtbaren, jemanden aus Luft. Und meine Hand hat ganz exakte Bewegungen ausgeführt, sie wusste genau, was sie tätowieren wollte. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll: Das Motiv war auch unsichtbar, aber ich habe es gespürt, ich konnte den Umriss erkennen, ich brauchte die Linien nicht zu sehen. Und je länger ich tätowiert habe, desto mehr geriet ich in eine Art Trance. Das Motiv war unglaublich mächtig und hatte ganz viel mit mir zu tun.«
Jana sah ihrem Bruder forschend in die großen hellen Augen. Sie waren feucht. »Wie sah das Motiv aus?«, fragte sie leise.
David schüttelte langsam den Kopf. »Das weiß ich nicht. Es war nichts Konkretes. Aber irgendwann hat meine Hand etwas Rundes nachgezeichnet und dabei habe ich ein Brennen an den Fingern gespürt. Du weißt ja, normalerweise reagieren sie auf gar nichts. Sie sind so taub geworden, als wären sie aus Holz.«
»Erzähl weiter.«
»Wie gesagt, es war so was wie ein großer Ring mit Zacken und ich weiß, dass er aus Licht bestand, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte.«
»Die Essenz der Macht …«
»Genau das habe ich auch gedacht«, bestätigte David mit glänzenden Augen. »Oder vielmehr habe ich es gespürt. Es war diese Krone, die, die Erik umgebracht hat. Und dann war da noch die heilige Höhle, aber irgendwie abstrakt.«
Jana blieb mehrere Sekunden stumm. »Was sagst du, wann hast du diese Vision gehabt?«, fragte sie schließlich.
»Gestern Morgen, vielleicht um halb sechs oder sechs.«
»Da muss hier schon Mittag gewesen sein«, sagte Jana
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