Illusion - das Zeichen der Nacht
sterblich. Ich nehme an, dadurch sehen sie das Leben völlig anders.«
Alex nickte. Er war dabei, eine Orange zu schälen, und wirkte völlig darauf konzentriert. »Gestern hat Nieve mich allerdings echt überrascht«, erklärte er, ohne den Blick zu heben. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie ihre früheren Fähigkeiten noch besitzt. Mein Eindruck war, dass sie sogar noch stärker geworden sind.«
Jana sah ihn neugierig an. »Stimmt. Und deine auch.« Sie achtete auf seine Reaktion. »Seltsam, oder? Wie erklärst du dir das?«
Alex hielt ihr eine Hälfte der Orange hin. »Keine Ahnung. Die Art und Weise, wie die Magie der heiligen Höhle sich in der Welt verteilt hat, verblüfft mich immer wieder. Manche Menschen scheinen unglaubliche Fähigkeiten bekommen zu haben, während sich bei anderen überhaupt nichts verändert hat. Ich frage mich, was wir falsch gemacht haben. Sie hätte sich doch gleichmäßig verteilen müssen.«
»Es wäre besser, wenn du dich das nicht mehr fragst. Die Magie lässt sich nicht mit rationalen Mitteln verstehen, so wie die Psychologie oder andere Wissenschaften. Es ist mehr eine Frage der Intuition. Und der Gefühle.«
Alex machte ein skeptisches Gesicht. Jana mied seinen Blick und konzentrierte sich darauf, das süße, saftige Fruchtfleisch der Orange zu kauen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte sie. »Es wird schwierig werden, das Buch zu finden, jetzt, wo Argo nicht mehr da ist.«
»Vielleicht wäre es besser, wir vergessen die ganze Geschichte«, sagte Alex. »Letztendlich hatte Yadia wahrscheinlich recht. Argo hat nur versucht, uns um den Finger zu wickeln. Höchstwahrscheinlich gibt es dieses Buch überhaupt nicht.«
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden – indem wir Nieve alles erzählen. Sie und Corvino müssten eigentlich wissen, ob Dajedis Kopie noch existiert.«
»Und du meinst, wenn sie etwas wissen, sagen sie es dir?« Alex lächelte spöttisch. »Nach dem, was gestern passiert ist?«
»Genau deswegen sollten wir ganz offen sein. So merken sie, dass wir ihnen vertrauen …«
»… und verzeihen uns. Ehrlich, Jana, ich bin mir da nicht so sicher.«
In diesem Moment klingelte das Zimmertelefon. Jana und Alex sahen sich überrascht an. Niemand wusste, dass sie sich hier einquartiert hatten, nicht einmal David oder Alex’ Mutter. Außerdem hätten sie sie auf dem Handy angerufen und nicht im Hotel.
»Bestimmt die Rezeption.« Alex stand auf, um an den Apparat zu gehen. »Ich habe gestern vergessen, meinen Pass mitzunehmen, den musste ich doch beim Einchecken abgeben.«
Jana beobachtete ihn, während er den Hörer ans Ohr hielt und der Person am anderen Ende der Leitung kurz angebunden antwortete.
Nachdem er aufgelegt hatte, bemerkte er: »Die Rezeption. Es wurde eine dringende Nachricht für uns abgegeben. Ein Page bringt sie hoch.«
Fünf Minuten später klopfte es an die Tür der Suite. Als Alex aufmachte, stand vor ihm ein junger Italiener in einer altmodischen Livree und hielt ihm ein ovales Silbertablett mit einem weißen Umschlag hin. Er wartete unverkennbar auf Trinkgeld und ging erst wieder, als Jana ihm die einzige Euromünze gab, die sie in ihrem Portemonnaie finden konnte.
Während sie die Tür schloss, riss Alex bereits den Umschlag auf. »Ich fasse es nicht«, sagte er beim Lesen finster. »Das ist von Yadia. Willst du wissen, was er schreibt?«
»Was soll denn die Frage!«, erwiderte Jana ungeduldig.
Alex räusperte sich und las vor. »›Tut mir leid, dass meine kleine Aktion gestern so tragisch ausgegangen ist. Wenn ihr auf mich gehört hättet, wäre alles anders gelaufen. Tja, jetzt ist es zu spät. Aber wegen einer kleinen Unstimmigkeit will ich nicht zwei gute Freunde verlieren. Lasst uns Frieden schließen, das meine ich ernst. Um es euch zu beweisen, habe ich mir erlaubt, euch ein kleines Geschenk zu besorgen.‹«
»Es ist unglaublich, wie dreist dieser Typ ist.« Jana beäugte den Umschlag. »Das hier ist das Geschenk?«
Alex zog ein flaches Kuvert mit Blumenmuster, kaum größer als eine Visitenkarte, aus dem Umschlag, riss es geschickt auf und hielt gleich darauf zwei Eintrittskarten in der Hand, dazu einen Werbeprospekt.
»›Heute Abend großer Auftritt des berühmten Zauberkünstlers Armand Montvalier. 21.30 Uhr im Teatro Fiori, Fondamenta dei Nicolotti.‹« Alex blickte zu Jana auf. »Er lädt uns zu der Vorstellung von diesem Armand ein.«
»Das ist der Magier, von dem ich dir erzählt habe«, sagte Jana leise.
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