Im Abgrund der Ewigkeit
nachts reiten, tragen sie Fackeln bei sich. Die Rattenmenschen kommen. Morgen werden sie hier sein.“
2
D ie Luft im Stall roch nach frischem Heu. Im Gegensatz zu draußen erschien mir die Scheune mollig warm. Ich führte meinen Fuchs in seine Box, wo ich ihm die Trense abnahm und seinen Bauchgurt öffnete. Ich schickte mich an, den Sattel herunterzuwuchten, als Clement hinter mich trat.
„Lass mich dir helfen“, sagte er.
Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er schon das dunkle Leder ergriffen und es nahezu mühelos vom Rücken des Pferdes gehoben. Er legte den Sattel zum Zaumzeug auf eine der halbhohen Trennwände.
„Du siehst geschafft aus“, bemerkte er.
Ich holte etwas Hafer aus der Futterkiste und füllte ihn in die Tröge. Die Pferde begannen zu fressen.
„Du bist auch nicht mehr der Frischeste“, erwiderte ich.
„Merkt man mir das so deutlich an?“ Clement hatte sich einen Hufkratzer genommen, hob das erste Bein seines Pferdes an und begann mit der Reinigung.
„Ja“, sagte ich. „Heute auf dem Friedhof…“, ich zögerte, „habe ich eine ganz neue Seite von dir kennengelernt.“
Clement schaute auf. „Sorry, wenn ich dich geängstigt haben sollte. Aber…“ er stockte, um stattdessen weiterzuarbeiten.
„Du warst bisher stets … cool , hast nie eine Regung gezeigt.“
„Ich habe gelernt, meine Gefühle für mich zu behalten. Als ich jedoch ganz unvermittelt meinem Onkel gegenüberstand…, tja… da war’s mit meiner Selbstbeherrschung vorbei.“
„Warum hast du Johannes eigentlich nicht mitgenommen? Bestimmt hätte der sich auch gefreut, einen Verwandten von euch wiederzusehen. Und vielleicht, vielleicht hätte er sich dann erinnert. An sein früheres Leben, meine ich.“
Clement ließ den Huf seines Pferdes los, ging zum nächsten Bein. „Ich hatte lediglich erfahren, dass jemand kommt. Ein Reisender, wie sie in dieser Gegend genannt werden. Ich hatte doch keine Ahnung, dass es sich dabei um meinen Onkel Franz handelt. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich das zu hoffen gewagt. Das kannst du mir glauben, Lilith.“
Ich hatte Heu geholt und warf es zuerst zwischen die Beine meines Pferdes und dann versorgte ich auch die Box von Clements Schimmel.
„Du sprachst außerdem von Sünden und Absolution.“
„Ja, und?“
„Ich hätte niemals gedacht, dass dir derartige Vorstellungen wichtig sind.“
„Du hältst mich für einen absolut atheistischen Menschen, gib‘s zu.“
Ich griff mir einen Striegel und bearbeitete das Fell meines Fuchses. „Ich kann dich überhaupt schlecht einschätzen. Aber ich dachte immer, dass du vollkommen ohne jede Angst bist.“
Erneut hielt Clement mit seiner Arbeit inne. Seine grünen Augen leuchteten auf, als er lächelte. „Lilith, ich bin doch kein Monster! Morgen haben wir einen schweren Kampf vor uns. Es ist sehr gut möglich, dass einer von uns stirbt. Wenn ich Pech habe, fällt das Los auf mich. Sicher habe ich Angst. Wer hätte die nicht?“
„Wir haben keine andere Wahl“, sagte ich. „Die Leute in der Ortschaft zählen auf uns.“
„Da hast du natürlich recht. Aber ich, ich habe früher ganz schreckliche Verbrechen begangen. Und wenn ich morgen sterben sollte, dann…“, wieder sprach er seinen Satz nicht zu Ende.
Ich sah ihn ungläubig an. „Du meinst, dann fährst du zur Hölle?“
„Davon bin ich überzeugt. Meine einzige Chance lag darin, dass mein Onkel sozusagen ein gutes Wort für mich einlegt. Ich habe keine Furcht vor dem Tod an sich, aber die Hölle…“, er schüttelte den Kopf. „Die bereitet mir schon Sorgen.“
„Dann müssen wir eben aufpassen, dass dir nichts passiert.“
Clement hatte alle Eisen seines Pferdes gereinigt und hängte den Kratzer an einen Haken. Er wandte mir den Rücken zu, während er weiter sprach. „Du bist ein guter Mensch, Lilith. Johannes kann sich glücklich schätzen, dass er dich hat.“
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Stattdessen arbeitete ich mit meinem Striegel weiter.
„Kommst du mit nach drüben?“, fragte Clement halb über seine Schulter.
„Noch nicht“, antwortete ich. „Ich brauche noch ein wenig Zeit für mich.“
„Kann ich gut verstehen“, sagte Clement. „Dann sehen wir uns später in der Herberge.“
„Ja, später“, erwiderte ich.
Clement schloss die quietschende Stalltür hinter sich. Ich blieb allein mit den Pferden zurück und lauschte seinen einsamen Schritten, die sich allmählich in der Nacht
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