Im Abgrund der Ewigkeit
nur essen konnte.
„Die Witterungsverhältnisse verhindern, dass sie nachts marschieren“, meinte Johannes.
„Das stimmt“, pflichtete ihm Clement bei und trank einen tiefen Schluck. „Aber die Kälte wird sie früh aus dem Schlaf reißen und sie werden beim ersten Tageslicht hier erscheinen - durchgefroren, verschlafen und hasserfüllt.“
„Und wir werden sie gebührend empfangen“, ergänzte Johannes. Sein Blick wirkte nachdenklich.
Eine Zeitlang herrschte Ruhe.
Cecilia räusperte sich. „Ich habe keine Angst vor dem morgigen Tag. Ich habe auch keine Angst zu sterben. Aber ich würde gerne einmal die Welt da draußen sehen.“
„Du hast nichts verpasst“, bemerkte Clement.
„Nein?“, fragte Cecilia. „Stimmt das wirklich, Lilith? Gibt es draußen nichts Interessantes?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Mich darfst du nicht fragen. Meine Erinnerung reicht nur ein paar Tage zurück. …Und was ich erlebt und gesehen habe, kann man nicht wirklich als berauschend bezeichnen.“
„Aber Clement erinnert sich“, meinte Johannes.
„Das ist nicht unbedingt ein Vorteil“, erwiderte Clement und ich hatte den Eindruck, dass seine nächsten Worte der Wahrheit entsprachen: „Häufig beneide ich Lilith und dich. Ihr werdet im Gegensatz zu mir nicht durch die Vergangenheit belastet. Ihr habt gleichsam ein neues Leben begonnen. Ich jedoch nicht.“
Erzähle mir von Asmodeo.Berichte mir, was du von ihm weißt – wollte ich sagen. Aber ich zögerte, es laut auszusprechen, als mir der nahezu verbrannte Brief in den Sinn kam, von dessen eigentlicher Nachricht nur noch Clements Name übrig geblieben war.
Hatte mich Asmodeo etwa vor ihm warnen wollen? Oder hatte er versucht, mir mitzuteilen, dass ich mich auf Clement verlassen konnte?
Ich schluckte meine Frage hinunter und senkte meinen Blick auf die Tischplatte.
Cecilia beugte sich vor und berührte mit ihren Fingerspitzen sanft das Medaillon, das an meinem Hals hing. „Das ist zauberhaft“, meinte sie bewundernd.
„Nicht wahr?“, sagte ich. „Willst du es einmal haben?“
Bevor sie antworten konnte, hatte ich schon den Verschluss gelöst und ihr das Schmuckstück über den Tisch gereicht. Für einen Augenblick trafen sich unsere Hände. Blitzartig durchfuhr mich eine vage Erkenntnis. Diese Energie, diese Ausstrahlung hatte ich früher schon gespürt. Tausende Male. Aber wo? – So sehr ich mich auch bemühte, ich vermochte nicht, meine Frage zu beantworten.
Cecilia bemerkte meine Unruhe und interpretierte sie falsch. „Du musst mir das Medaillon nicht geben.“
„Nein, nein“, beeilte ich mich, zu sagen. „Du kannst das Medaillon so lange betrachten, wie du willst. Ich hatte gerade nur ein komisches Gefühl.“
Ich spürte, wie mich Gundula beobachtete. Zu ihr aufblickend las ich in ihren Augen eine tiefe Unruhe. Sie überspielte sie, indem sie mich leicht gezwungen anlächelte.
Cecilia ließ das Schmuckstück an der Kette behutsam hin und her baumeln. Der Schein der Petroleumlampe fing sich in den Diamanten und deren Farben begannen zu strahlen. Sie betätigte den Mechanismus. Der Deckel sprang auf, die kleinen Portraits wurden sichtbar und die Musik setzte ein. Die Töne schwangen einzeln durch die Stille. Die Melodie entstand. Sie riss die Bilder mit sich, die sie in meinen Kopf zauberte. Der Jahrmarkt, der Feuerschlucker, die Kinder in den roten Capes.
Ich atmete ein, verwies die Erinnerung aus meinem Bewusstsein und abgrundtiefe Leere machte sich in mir breit. Die Melodie aber entwickelte sich weiter. Cecilias Augen sprühten vor Leben, Johannes klopfte neben mir im Takt zu der Musik, Gundula summte mit und Clements Gesicht verlor vorübergehend seine allgegenwärtige Wachsamkeit. Nie zuvor hatte ich gespürt, welche Freude, welch tiefe Kraft in dem Lied schlummerte. Meine Erschöpfung, meine Sorgen verschwanden und machten einem Gefühl der Ruhe und der Sicherheit Platz.
Johannes legte seinen Arm um meine Schulter, drückte mich an sich. Geborgenheit erfüllte mich. Ich ließ mich von ihm halten. Mein Blick glitt über die Menschen, die mit mir an diesem Tisch saßen. Ich konnte mich auf jeden Einzelnen von ihnen verlassen. Selbst mein Misstrauen gegenüber Clement löste sich allmählich auf. Ich hatte Freunde - mehr noch, eine Familie. Was immer uns die nächsten Tage auch bescheren würden - gemeinsam konnten wir es schaffen.
Die Müdigkeit erreichte mich schlagartig. Meine Augen fielen mir mehrmals zu. Ich gähnte
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