Im Abgrund der Ewigkeit
Arne hoffnungsvoll, dem es wie mir nicht gefiel, zurückgelassen zu werden.
Johannes lächelte gezwungen. „Ein Joker, wenn du so willst. Wenn wir Glück haben, gibt es ihn nicht.“
„Ja, natürlich“, erwiderte Clement lakonisch. „Wir sind ja überhaupt die reinsten Glückskinder.“ Und zu Johannes gewandt: „Welche nimmst du?“
„Ich habe schon immer die Natur geliebt. …Also, wenn du nichts dagegen hast…“
Clement prüfte mit dem Daumen die Schneide seines Messers. „O. k. Dann werde ich den Kerlen, die sich eingegraben haben, auf den Pelz rücken.“
Ich ging zu Johannes, legte die Arme um seinen Hals und versuchte, ihn festzuhalten. Er lächelte, drückte mir einen harten Kuss auf die Lippen. Als ich in seine Augen sah, loderte darin eine unbändige Wildheit auf.
„Sei vorsichtig“, flüsterte ich.
Er küsste mich nochmals, dann griff er nach hinten und löste fast gewaltsam meine Hände. Ohne ein Wort des Abschieds drehte er sich ab, um den Felsen auf der linken Seite hinaufzusteigen. Bald hatte er die Bäume erreicht und verschwand im dichten Grün der Tannen.
Clement stand noch ruhig auf seinem Platz, spielte mit seinem langen Messer mit der schnabelförmigen Klinge. Unvermittelt trat er zu mir, fasste grob in mein Haar und schnitt sich eine Locke ab.
„Was soll das?“, zischte ich und riss mich frei.
„Nur ein kleines Souvenir“, grinste er, doch seine Augen lachten nicht. Er steckte die Locke in seine Hemdtasche und wandte sich der Felswand auf der rechten Seite zu. Kurze Zeit später konnte ich auch ihn nicht mehr sehen.
Arne und ich krochen zu unserer ursprünglichen Position zurück und spähten abwechselnd in die beiden Richtungen, in denen sich die getarnten Wachleute aufhielten.
Alles blieb ruhig.
Die Zeit wurde mir schrecklich lang. Das Warten riss an meinen Nerven, legte sie blank und ließ mich vor Aufregung und Erschöpfung beben.
Mitunter konnte ich die Wächter jetzt deutlich ausmachen. Dann zerflossen ihre Konturen und ich war mir nicht mehr sicher, ob sich in der Mulde oder im Wald überhaupt Lebewesen befanden. Vielleicht spielte mir meine überreizte Einbildung auch nur Streiche.
Ein Vogel zwitscherte, und bald darauf wurde ihm geantwortet. Die Rufe klangen friedlich und erinnerten mich an Sonne und Wärme. Doch diesmal kündigte der Gesang Gewalt und Tod an. Johannes und Clement waren in Position und bereit, zuzuschlagen.
Eine Gestalt mit einem langen, weißgescheckten Mantel erhob sich am Waldrand. Sie trat auf die schneebedeckte Ebene heraus und begann zu tanzen. …Nein, es war kein Tanzen. Sie taumelte, griff sich an den Hals und brach sogleich zusammen.
In meinem linken Blickfeld erhaschte ich eine flüchtige Bewegung. Ein gebückter Schatten raste pfeilschnell auf die Grube zu, in der sich die zwei anderen Wachleute befanden. Dann hechtete Clement kopfüber in die Mulde.
Kein noch so leises Geräusch drang durch die winterliche Stille zu uns empor.
Endlich kroch eine einzelne Person aus der Vertiefung, stand auf und winkte zu uns herauf: Clement.
Am Waldrand rollte ein dunkles Knäuel durch den Schnee. Zwei Männer kämpften auf Leben und Tod miteinander. Unwillkürlich presste ich meine Hand vor den Mund. Einer der Männer war Johannes. Es hatte doch noch eine vierte Wache gegeben.
Der Rattenmensch riss sich frei und hetzte auf die Brücke zu. Er wollte zu der Höhle gelangen, um Alarm zu schlagen. Nur mit Mühe unterdrückte ich einen Aufschrei. Johannes, der gerade noch am Boden gekauert hatte, sprang auf. Ich sah, wie er mit seiner Rechten ausholte, den Oberkörper weit nach hinten gebeugt, und dann warf er sein Messer. Der Fliehende strauchelte, drehte sich um die eigene Achse und fiel mit weit ausgestreckten Armen zu Boden.
Jetzt gab es für mich kein Halten mehr.
Mit Arne im Schlepptau hastete ich zu den Pferden zurück. Wir banden ihre Zügel los und führten sie über den geröllbedeckten Abhang nach unten. Mehrfach glitt ich auf den Steinen aus. Ich achtete nicht darauf, sondern zerrte die schnaubenden Pferde hinter mir her, hängte mich an deren Trensen, wenn ich zu fallen drohte. Die Tiere spürten meine Unruhe. Sie stemmten sich gegen mich und warfen ihre Köpfe nach oben. Aber ich ließ keinen Widerstand zu. Ich musste zu Johannes. Ich musste mich vergewissern, dass er unverletzt geblieben war.
Die Ebene, die von oben flach gewirkt hatte, entpuppte sich als wellige, gefrorene Wiese, auf der teilweise fast meterhoch der Schnee
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