Im Abgrund der Ewigkeit
geglückt war. Auf diese Weise würden wir einen vollen Tag sparen. Allerdings hätte zu dieser Jahreszeit kein vernünftiger Mensch den engen Pass betreten, denn er war im Winter ständig von Schnee- und Gerölllawinen bedroht. Nur Verrückte wagten es, ihn zu benutzen – oder absolut Verzweifelte.
Unser Weg führte uns steil bergan. Zu beiden Seiten wuchsen gigantische Berge empor. Sie drängten sich immer näher an uns, verdunkelten das Licht, raubten jede noch so kleine Spur von Wärme. Ab und an hörten wir ein wütendes Grollen, welches den Boden erzittern ließ, wenn sich irgendwo weit entfernt eine Lawine löste und mit todbringender Wucht in die Tiefe stürzte.
Teilweise kämpften wir uns durch meterhohe Schneewehen. Die Pferde ächzten und schnaubten unter der Anstrengung, doch wir nahmen keinerlei Rücksicht. Unbarmherzig zwangen wir sie, das Tempo beizubehalten. Wir durften keine Zeit verlieren.
Wenn Steine oder Geröll unseren Weg blockierten, stiegen wir ab, um die Pferde am Zügel weiterzuführen. Wir hasteten voran, bis der Schweiß über unsere Gesichter rann und unsere Kleidung klamm am Körper klebte.
Hunger stellte sich ein, aber wir achteten nicht darauf. Wir mussten unser Ziel erreichen, jede Minute zählte.
In dem bleigrauen Stückchen Himmel über uns drückten sich dichte Wolken tief zwischen die Gipfel der Berge. Wir waren nicht in der Lage, den Verlauf der Sonne zu verfolgen. Irgendwann stand sie im Zenit, die Mittagszeit verschwand unter unserer lähmenden Anstrengung, ohne dass wir sie bewusst wahrgenommen hätten.
Wir hetzten vorwärts, stumm und entschlossen, den Wettlauf gegen den Tod zu gewinnen.
Urplötzlich brach der Pfad ab, auf dem wir uns bewegten. Ein steiler Abhang tat sich auf, mit zahllosen scharfkantigen Steinen übersät, die aus dem Winterweiß beinahe drohend hervorstanden.
Ich stieg ab, zitternd vor Erschöpfung, packte mein vor Schweiß dampfendes Pferd am Zügel und spähte in das kleine Tal, das sich unter uns ausbreitete. Dichte schwarzgrüne Tannen säumten die schroffen Flanken der Berge, die wenige Meter oberhalb der Baumgrenze unter der enormen Schneelast zu ächzen schienen. Soweit das Auge reichte, türmten sich dort die weißen Massen, und ich erblickte eine breite Schneise inmitten der Bäume, die unlängst eine Lawine geschlagen haben musste.
Die Tannen umschlossen eine längliche Ebene. Eine bodenlose Schlucht, eine Kerbe im grauen Gestein über die eine unscheinbare Hängebrücke führte, zerschnitt das Tal im hinteren Bereich. Direkt angrenzend sah ich die gähnende Öffnung einer Höhle. Ein einzelner nackter Fels erhob sich darüber. Unbeirrt von den Widrigkeiten der Natur ragte er steil empor. Seine Form erinnerte an Hildes verkrüppelten Zeigefinger.
Wir waren am Ziel angelangt.
„Ist es das?“, fragte Johannes.
„Ja“, antwortete ich. „Genauso, wie die Alte es mir beschrieben hat.“
Wir drehten um, banden unsere Pferde in sicherer Entfernung an einige Fichten, kehrten zurück zu unserem Ausguck, um uns bäuchlings auf den Boden zu legen. Angestrengt starrten wir zu der Höhle, den Bäumen und der Brücke.
„Zwei“, sagte Arne.
„Drei“, bemerkte Johannes nach einer Weile.
„Drei sicher“, bestätigte Clement. „Vielleicht noch ein Vierter.“
Ich hatte nichts erkannt und kam mir wie der letzte Trottel vor. „Was beobachtet ihr?“, fragte ich.
„Wachen“, antwortete Johannes. „Eine befindet sich rechts oben unter den Bäumen. Zwei weitere kauern in der Mulde nicht weit von der Schlucht entfernt.“
„An denen kommen wir niemals unentdeckt vorbei“, sagte ich.
„Das ist richtig. Das gelingt uns nicht.“ Clement war wieder ein Stück zurückgerückt, setzte sich auf, legte seinen Hut ab und zog den schweren Poncho aus, um ihn am Sattel festzubinden. Er griff in seinen Stiefel und brachte sein Messer zum Vorschein. Johannes seufzte und begann ebenfalls seinen Mantel abzustreifen.
„Was habt ihr vor?“, fragte ich.
„Wir können die Wachen nicht umgehen, also müssen wir sie ausschalten.“
„Und wo steht geschrieben, dass ihr das alleine machen müsst?“
Clement grinste. „Nirgends. Aber nur so haben wir Aussicht auf Erfolg. Einer von uns kümmert sich um die menschliche Ratte, die sich im Wald verbirgt. Und der andere versucht inzwischen, möglichst nahe an die zwei in der Grube zu kommen. Und ihr bleibt hier, als Rückendeckung, falls etwas schiefläuft.“
„Was ist mit Nummer vier?“, fragte
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