Im Abgrund der Ewigkeit
Unvermittelt richtete sie sich auf. Ein entschuldigendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Aber was rede ich da! Ihr müsst hungrig sein.“
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verließ geschäftig den Raum. Einige Frauen folgten, um kurze Zeit später zurückzukehren – beladen mit mehreren schwarzen Töpfen, die sie auf die Tafel stellten. Nachdem die Deckel abgenommen waren, verstärkte sich der verführerische Duft, der mir bereits beim Eintreten den Mund wässrig gemacht hatte.
Gundula hatte sich inzwischen wieder gesetzt. Mithilfe von Schöpfkellen begannen die Frauen das Essen auf die Teller zu verteilen. Jeder bekam gleich viel - knapp zwei Kellen voll.
Eine weitere Frau brachte Brotkörbe, die herumgereicht wurden. Allem Anschein nach war das Brot abgezählt. Ich nahm mir meine Scheibe. Es war trocken und beinahe hart, aber mir schmeckte es großartig zu dem heißen Bohneneintopf, in den sich auch ein paar Fleischstücke verirrt hatten.
„Hasenragout“, sagte Gundula. Ihre Stimme drang spielend durch das Geklapper des Bestecks. „Cecilia und Arne“ – sie wies auf ihre Tochter und einen jungen braunhaarigen Mann – „sind recht erfolgreiche Jäger.“
„Das habe ich gemerkt“, bestätigte ich. „Cecilia versteht es, mit dem Gewehr umzugehen.“
Die Gespräche in dem Raum verstummten nach meiner Antwort. Mein Teller war fast leer, ich zerquetschte die letzten Bohnen mit dem Brot und stopfte mir alles gierig in den Mund. Der erste Hunger war gestillt, aber ich war noch lange nicht satt. Offensichtlich ging es niemandem an der Tafel anders.
Johannes stellte den Becher, aus dem er gerade eine Art heißen Tee getrunken hatte, mit einem dumpfen Geräusch ab. „Gundula. Du hast vorhin gesagt, dass du darum gebetet hast, dass ich zu euch komme. Jetzt bin ich hier.“
Gundula lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und nickte. „Ich habe all meine Kraft eingesetzt. Fast hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben. Die Zeit rann mir wie Sand durch die Finger. Aber du hast es schließlich geschafft. Du hast sogar noch Lilith mitgebracht. Und dein Bruder scheint mir auch ein großer Kämpfer zu sein.“
Clement hob seinen Tonbecher, um Gundula zuzuprosten. Dann trank er einen kleinen Schluck. Er wirkte wie immer weder müde, noch hungrig, noch besonders durstig. Ich fragte mich zum wiederholten Male, ob er überhaupt jemals eine Schwäche zeigte.
„Jetzt, wo wir da sind“, fuhr Johannes fort, „könnt ihr mir doch sagen, welche Gefahr euch droht und wovor wir euch beschützen sollen.“
„ Gefahr . Was für ein niedliches Wort. Zwei Silben, ein etwas dunkler Klang. Wie absolut unpassend für unsere Situation - für den ausweglosen Schrecken und die Verzweiflung, in der wir dahinvegetieren“ Gundula griff geistesabwesend nach ihrer Tasse und drehte sie in ihren Händen herum.
Die dunklen Augen von Johannes zogen sich leicht zusammen. Sein Blick wurde prüfend und nachdenklich.
„Wir leben hier oben weit über den Wolken. Die Winter sind unerbittlich, die Sommer kurz. Unsere Felder bringen nur eine bescheidene Ernte. Und jedes Jahr, zu Beginn des Winters, kommen die Rattenmenschen. Sie nehmen uns einen Großteil unserer Vorräte und den Schnaps, den wir fässerweise für sie brennen müssen. Aber diesmal…“, Gundula stockte. Die Tasse in ihren Händen zitterte. „Aber diesmal haben wir selbst nicht genug. Neue Freunde sind im Laufe des Jahres zu uns gekommen. Unsere kleine Gemeinde ist gewachsen. Wenn wir einen Großteil unserer Vorräte hergeben, werden wir bis zum Frühjahr alle verhungert sein.“
Johannes‘ Miene signalisierte Verständnis. „Dann ist das Beste für euch, wenn ihr Snowhill einfach verlasst.“
Gundulas Lächeln war schmerzhaft. „Das geht nicht. Das ist für uns unmöglich.“
Clement hustete leicht. Es klang gezwungen und künstlich. „Die nette Dame sagt uns nicht die volle Wahrheit.“
Johannes deutete mit einer kleinen Bewegung des Kopfes auf seinen Bruder und fragte dann: „Stimmt das? Hat er recht?“
Gundula seufzte schwer und ließ sich Zeit mit der Antwort. „Leider ja. Wenn die Rattenmenschen kommen, nehmen sie mitunter auch einige Kinder mit.“
„Wozu?“, mischte ich mich ein. „Was wollen die ausgerechnet mit Kindern?“
„Lilith, das ist eine lange Geschichte. Aber so viel kann ich dir sagen: Niemand in Snowhill altert. Wir bleiben, wie wir sind. Und einige von uns sind schon sehr, sehr lange hier.“ Gundulas Gesicht hatte einen
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