Im Abgrund der Ewigkeit
wir in einen unerwarteten Hinterhalt geraten sollten.
Cecilia öffnete eine schwere Holztür, schob einen dicken Filzvorhang zur Seite und bat uns mit einer Handbewegung, einzutreten.
Johannes ging als Erster, dann folgte ich. Clement machte wie immer den Schluss. Wohlige angenehme Wärme schlug uns entgegen. Der Duft von köstlichem Essen. Im offenen Kamin loderte ein Feuer. Der Raum war lang, an die zwanzig Schritte. Auf frisch gewachsten Holzdielen stand eine nicht enden wollende Tafel. Ungefähr zwei Dutzend Menschen saßen darum, ihre Augen auf uns gerichtet. Alle schwiegen. Niemand sprach auch nur eine Silbe.
Cecilia schloss die Tür mit einem lauten Krachen und stellte sich neben mich.
„Mutter!“, rief sie. „Ich habe sie gefunden! Genau, wo du gesagt hast!“
Die Ruhe, die ihren Worten folgte, hatte etwas Unwirkliches. Ich hatte Zeit, die Menschen, die vor mir saßen, näher zu betrachten. Männer und Frauen, jung und alt, auch einige Kinder, starrten uns an. Ihre Kleidung war zweckmäßig und absolut schmucklos. Und wie es mir schien, hatte man sie bereits unzählige Male gewaschen und geflickt. Die Hände der Menschen, die jetzt untätig neben ihren Gedecken lagen, wirkten grob und abgearbeitet.
„Mutter“, rief Cecilia nochmals, „wir sind da!“
Schritte ertönten, die Verbindungstür zu einem Nebenzimmer schwang quietschend auf. Eine hochgewachsene Frau in einem bodenlangen blauen Kleid betrat den Raum. Ihr Haar hing ihr zu einem Zopf geflochten über den Rücken. Wenige graue Fäden mischten sich unter ein dunkles Braun.
Die Frau ging an die Spitze der Tafel und nahm Platz, ohne uns weiter zu beachten. Sie hielt den Blick nach unten gerichtet. Fast schien es mir, als koste es sie Überwindung, aufzusehen. Erst nach einer Weile hob sie ihren Kopf. Ihre Augen waren groß, braun und überaus gefühlvoll. Ihr Gesicht hingegen, blieb zunächst ausdruckslos, dann erschien ein wehmütiges Lächeln darauf.
„Hallo Lilith“, sagte sie.
Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden richtete sich auf mich. Ich war mir unsicher, was ich antworten sollte. Deshalb gab ich ihr das Lächeln zurück, nahm meinen Hut ab und hielt ihn fast verlegen in beiden Händen.
„Lilith, Lilith“, fuhr die Frau fort. „Nach so vielen Jahren.“ Sie machte eine Pause. Die Sekunden rannen dahin. „Du bringst zwei Begleiter mit nach Snowhill. Wenn ich es mir recht überlege, handelt es sich bei einem von ihnen um deinen Mann. Du hast mir seinen Namen damals nicht genannt.“
„Johannes“, erwiderte ich mit fester Stimme. „Er heißt Johannes.“
Johannes nahm ebenfalls seinen Hut ab und verbeugte sich leicht.
„Aber wer ist der Dritte in eurem Bund?“, fragte die Frau.
Clement ging an den Tisch, zog sich einen der freien Stühle heran und setzte sich. Er lehnte sich ein wenig zurück, streckte die Beine aus und verschränkte seine Hände vor der Brust. „Ich bin Clement, der Bruder von Johannes. Ich begleite die beiden und passe auf, dass ihnen nichts…, sagen wir einmal, … Schreckliches passiert.“
Die emotionalen Augen der Frau ruhten einen Moment auf Clement und wurden nachdenklich und härter. Als sie sich uns wieder zuwandte, war die alte Sanftheit zurückgekehrt. „Aber, Lilith und Johannes! Was bin ich doch für eine schlechte Gastgeberin. Nehmt doch bitte Platz!“
Wir folgten ihrer Aufforderung. Die Stühle waren ungepolstert, aber seltsamerweise dennoch bequem.
„Du kannst dich nicht mehr an mich erinnern“, sagte die Frau. „Aber vielleicht komme ich dir zumindest ein wenig bekannt vor?“
Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Das macht nichts, Lilith. Das ging uns allen so. Es dauert Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte, bis die elementarsten Dinge der eigenen Vergangenheit ins Gedächtnis zurückkehren. Das ist wirklich keine Schande.“
Die Frau stand auf. „Ich bin Gundula. Mir gehört diese Herberge. Und…“, sie hob ihre Hand und deutete auf Johannes, „ich habe in einem Traum gesehen, dass dieser Mann kommen wird, um uns zu beschützen. Ich habe gebetet und alle Beschwörungen benutzt, die mir vertraut sind. Wochenlang, monatelang, habe ich auf den Knien gelegen. Und jetzt ist mein Flehen erhört worden. Johannes ist da und er wird uns allen die Freiheit bringen.“
7
G undula hatte bei ihren letzten Worten die Hände auf den Tisch gelegt und sich weit nach vorne gebeugt. Ihre Augen suchten einen Punkt über uns, schienen eine ferne Zukunft zu betrachten.
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