Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
Zwang nach Wien, von dort aus gelangt ein Teil der Familie weiter nach Palästina und nach Shanghai. Josef, der Vater von Inge, stirbt in Wien, zuvor versuchte er noch, zusammen mit seinem Bruder Rudolf und dem Rest der Familie in die USA auszuwandern. Um Ilse und Inge zu retten, nutzen die Brüder im April 1939 die Gelegenheit, die beiden mit einem Kindertransport der Quäker nach Holland bringen zu lassen.
Übrigens, es gibt ein Foto, es zeigt die Cousinen als Holländerinnen verkleidet, Fasching 1935. Als die Deutsche Wehrmacht im Mai 1940 Holland überrennt, beginnt auch dort die Judenverfolgung. Ilse gerät in die Fänge der SS , wird am 31. August nach Niederkirchen in ein Außenlager von Auschwitz deportiert und drei Tage später ermordet. Sie ist damals siebzehn.
Ilses Eltern, Rudolf und Julie Brüll, versuchen, nach Ungarn zu fliehen, werden dabei aufgegriffen und nach Theresienstadt deportiert. Sie überleben das KZ und kehren 1945 nach Innsbruck zurück, wo Rudolf Brüll bis 1949 darum kämpfen muss, sein Geschäft wiederzubekommen.
Wie reagieren die Innsbrucker in der Pogromnacht?
Die Öffentlichkeit schweigt, die katholische Kirche auch. Dass sich „die kochende Volksseele gegen die Juden“ erheben müsse, wie Hofer im SA -Standartenheim forderte, davon kann nicht die Rede sein. Die Bevölkerung beteiligt sich an den Übergriffen nicht, auch wenn die Neueste Zeitung am darauf folgenden Abend lügt:
„Die berechtigte und verständliche Empörung hat auch in unserer Stadt zu Ausschreitungen geführt, die durch ihren elementaren Ausbruch der zutiefst erregten Bevölkerung Opfer gefordert hat.“
Etwas weiter unten in dem Artikel:
„Um weitere Ausschreitungen zu verhindern, musste eine Reihe von Juden in Schutzhaft genommen werden.“
Die Innsbrucker erkennen rasch, dass die Wirklichkeit schneller losschlägt, als Zeitungen sie erfassen. Denn am Morgen des 10. November steht in den Innsbrucker Nachrichten ein offensichtlich nach dem Tod des Gesandten Rath, aber vor den Übergriffen verfasster Artikel:
„Wir haben die Hebräer in der Ostmark nach dem Anschluß wahrhaftig mit Glacéhandschuhen behandelt. Es ist ihnen kein Haar gekrümmt worden, und daß wir darangingen, mit durchaus legalen Mitteln unsere Geschäftswelt von diesem Parasitentum zu reinigen, ist nun wirklich unser gutes Recht der Selbsterhaltung gewesen. Die berechtigte Notwehr zwingt uns heute zu dem einzig möglichen Mittel der Abwehr künftiger Bluttaten: Für jedes Verbrechen, das künftig irgendwo im Ausland an einem Deutschen begangen wird, werden die Hebräer, die immer noch unsere Gastfreundschaft genießen, zu büßen haben! Auch wir in Tirol haben noch allerhand Juden, und wir Tiroler lassen uns bekanntlich allerhand gefallen, ehe wir richtig zuschlagen. Aber wenn, dann richtig. Tiroler Fäuste haben nichts an Kraft verloren, und wer in der Geschichte einigermaßen Bescheid weiß, wird diese Drohung verstehen.“
Was unter Gastfreundschaft gemeint ist, beweist der systematische Raubzug durchs jüdische Vermögen der Stadt, die „Arisierung“, die ihre erbärmlichen Erfolge annoncenreich in der Zeitung breittrat: „Modenhaus Julius Meisel in arischen Besitz übergegangen“, Innsbrucker Nachrichten vom 2. Juni 1938, in selbigem Blatt am 6. August 1938: „Firma S. Schindler ist entjudet!“ Der jüdische Privatbesitz wird den NS -Spitzen um Gauleiter Hofer zur willkommenen Verteilungsmasse, die siebzehn in Tirol „beschlagnahmten“ jüdischen Autos dienen der Gestapo, SA und SS als Dienstfahrzeuge. Und was die Glacéhandschuhe angeht –
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Seit dem 20. Mai 1938 gelten auch in der Ostmark die Nürnberger Rassengesetze, die zur Grundlage der Ausgrenzung und Entrechtung werden und der jüdischen Bevölkerung die Auswanderung als einzige Überlebenschance einräumen. Doch den hiesigen Behörden geht diese Emigration zu langsam, Adolf Eichmann, Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien, wird nach Innsbruck eingeladen und prompt werden nach seinem Besuch 24 jüdische Haushaltsvorstände zur Gestapo zitiert, erzählt das Haus, in dem Ilse Brüll ihre Kindheit verbrachte. Ihr Vater wird zwei Monate vor der Pogromnacht am Tag seines 51. Geburtstages mit anderen Innsbrucker Juden verhaftet, er schildert im August 1947:
„Nachdem bereits am 20. 9. 1938 eine Partie Juden bei der Gestapo vorgeladen war, war ich bei der zweiten Partie dabei. Mir ist erinnerlich, daß bei meiner Partie Karl Bauer, Hugo
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