Im Angesicht der Schuld
und ging zurück.
» Komm rein «, sagte ich kurz angebunden.
Sie folgte mir in den Flur und hängte wortlos ihren Mantel an die Garderobe. Ich tat es ihr gleich und ging dann in die Küche, wo ich Wasser in den Kocher füllte. An den Geräuschen in meinem Rücken erkannte ich, dass Annette sich einen Stuhl unter dem Küchentisch hervorzog und sich setzte. Wie in Zeitlupe drehte ich mich um und sah sie an. Ich hatte nicht vor, es ihr leicht zu machen. Es war an ihr, das Gespräch zu eröffnen, und das wusste sie.
Mit der flachen Hand strich sie über die Tischplatte.
» Du hast allen Grund, sauer auf mich zu sein, Helen «, be gann sie, ohne aufzusehen. » Aber … vielleicht … wenn du versuchen würdest, dich in meine Lage zu versetzen, dann … «
» Hast du mal versucht, dich in meine zu versetzen? «
Ich gab mir Mühe, ruhig zu bleiben. » Mein Mann stürzt in den Tod, und du hast eine halbe Stunde zuvor noch mit ihm gespr o chen, hast ihn sogar gesehen. Anstatt mir davon zu erzählen, behauptest du, eure Verabredung nicht eingehalten zu haben und stattdessen ziellos durch die Straßen gelaufen zu sein, um deinen Frust loszuwerden. Ich habe … «
» Helen, bitte …! «
» Ich habe deine Worte noch im Ohr: Du glaubst nicht, wie oft ich mir nach Gregors Tod gewünscht habe, ich hätte meinen blöden Stolz überwunden und wäre trotz seiner wenig hilfsbere i ten Haltung an jenem Abend noch bei ihm vorbeigegangen. Vielleicht wäre er dann noch am Leben. Es hätte gereicht zu sagen, du hättest es dir anders überlegt und seiest nicht dort gewesen. Warum hast du das Ganze noch ausgeschmückt und eine so infame Lüge daraus gemacht? «
Ihr Blick huschte kurz zu mir, um gleich darauf die Flucht zu ergreifen. Sekundenlang verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Dann ließ sie sie sinken. » Herrgott, Helen, was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich dir etwa die Wahrheit sagen sollen? «
» Ja! «
» Ich war zutiefst erschüttert, als Joost mich am nächsten Morgen mit der Nachricht weckte, Gregor sei tot. Zuerst konnte ich es gar nicht fassen, und dann begriff ich … «
» Was? «
» Ich hatte fürchterliche Angst, er könne sich umgebracht haben. Kannst du das nicht verstehen? Mein Gott … ich habe gedacht, ich sei zur Tür hinausgegangen und er habe sich kurz darauf vom Balkon gestürzt. Dass zwischen meinem Weggang und seinem Tod eine halbe Stunde Zeit vergangen war, habe ich erst später erfahren. «
» Erinnerst du dich an unser Gespräch? Ich meinte, wenn Gregors letzter Besucher nichts zu verbergen habe, könne er das der Polizei ja sagen. Und du hast darauf geantwortet … «
» Ich weiß, was ich geantwortet habe «, erwiderte sie scharf. » Du musst mir hier nicht jedes meiner Worte wiederholen. «
» Du hast geantwortet: Außer, erfühlt sich schuldig. Du hast speku liert, die beiden könnten eine ganz grundlegende Ausei n an dersetzung gehabt haben, etwas, das so ans Eingemachte ging, dass Gregor darauf mit einem Kurzschluss reagiert hat. Erinnerst du dich auch daran, Annette? «
Wieder wich sie meinem Blick aus und schwieg mit zusa m mengepressten Lippen.
» Wie grundlegend war die Auseinandersetzung, die du mit Gregor hattest? Was ging so ans Eingemachte, dass du es für möglich gehalten hast, er könne darauf mit einem Kurzschluss reagiert haben? Sag es mir! «
Sie sprang auf und lief zur Tür. Im Türrahmen drehte sie sich zu mir um. » Das hat überhaupt keinen Sinn, was wir hier tun, Helen. Begreifst du das nicht? Dein Mann ist tot. Aber ich habe ihn nicht getötet. Hörst du? Ich war es nicht! «
» Sag es mir, ich will es wissen. «
» Wozu? «, fragte sie schwach. » Es hat keinerlei Bedeutung mehr. «
Ich setzte mich an den Tisch und sah zu ihr hoch.
» Wie kannst du so etwas sagen, Annette? Wir reden hier von den letzten Stunden meines Mannes. Wie könnten sie keine Bedeutung mehr haben? Die Ungewissheit macht mich halb krank, daraus habe ich kein Geheimnis gemacht. Du als meine Freundin … «
» Mach dir nichts vor, Helen, eine Freundschaft hat es schwer unter solchen Bedingungen. «
» Unter solchen Bedingungen beweist sich eine Freundschaft erst. Und wenn dir auch nur ein winziger Funke daran gelegen ist, dann sag mir jetzt, worüber du mit Gregor gestritten hast. «
Sie sah zu Boden.
» Was kann so entsetzlich sein, dass du nicht mit mir darüber reden willst? «
» Der Ausgang, Helen! Der Ausgang ist so entsetzlich. Wäre Gregor jetzt nicht tot, dann
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