Im Angesicht der Schuld
konnte es immer noch nicht fassen.
Annette redete weiter, als habe sie mich nicht gehört.
» Aber Gregor war ja genauso feige. Weißt du, was für eine betrogene Ehefrau mit das Schlimmste ist? Wenn sie die Wahrheit kennt, man aber immer wieder versucht, ihr weisz u machen, sie würde sich täuschen. Gregor hat das auch versucht. Er wollte mir einreden, zwischen den beiden sei nichts. Zumi n dest nicht das, was ich vermutete. Als ich ihn fragte, was sich denn dann zwischen ihnen abspiele, hat er geantwortet: Frag deinen Mann. Ich kann dir dazu nichts sagen. So spielt der eine dem anderen den Ball zu. Keiner muss Farbe bekennen, und die betrogene Ehefrau ist die einzige Dumme in dem miesen Spiel. «
» Hast du Joost gefragt? «
» Er hat die Beziehung zu dieser Frau als rein beruflich abg e tan. Aber ich glaube ihm nicht. Jemand, mit dem er beruflich zu tun hat, soll ihn abends vor einem Restaurant abfangen und einen Streit vom Zaun brechen? Das ist in all den Jahren, die wir uns kennen, noch nicht vorgekommen. Warum sollte es ausg e rechnet jetzt geschehen? «
18
Annette hatte gelogen. Und sie hatte die Wahrheit gesagt. Beides tat weh. Als sie fort war, hätte ich zu Mariele Nowak hinübergehen und Jana abholen müssen, aber ich konnte nicht. Wie gelähmt blieb ich am Küchentisch sitzen, starrte ins Leere und ging in Gedanken immer wieder unser Gespräch durch.
Eine Mischung aus Selbstmitleid und verzweifelter Trauer ergriff von mir Besitz. Eine seiner letzten Stunden hatte Gregor mit diesem grässlichen Streit verbringen müssen. Was danach geschehen war, wer auch immer gekommen war, hatte ihm den Tod gebracht. Ich sah ihn vor mir … mit seinem unerschütter l i chen Optimismus, mit seiner unverbrüchlichen Zuversicht. Und ich betete, dass ihm das Begreifen erspart geblieben war. Dass da nur ein großer Schreck gewesen war und dann nichts mehr. Dass es schnell gegangen war.
In Gedanken legte ich mich noch einmal zu ihm auf die Erde und nahm ihn in den Arm. Ich hielt seinen Kopf und tastete sein Gesicht mit Blicken ab. Ich nahm seinen Geruch in mich auf. Seinen Geruch, der sich mit Blut und Erde vermischt hatte.
Die Klingel zerrte mich zurück in die Gegenwart. Mit ble i schweren Beinen schleppte ich mich zur Tür, um zu öffnen. Mariele Nowak trug die schlafende Jana in ihren Armen und sah mich lächelnd an. Ohne ein Wort ging si e a n mir vorbei ins Kinderzimmer und legte meine Tochter auf den Wickeltisch. Vorsichtig wechselte ich ihre Windel und zog ihr einen Schla f anzug an. Sie blinzelte mich an und steckte den Daumen in den Mund. Kaum lag sie in ihrem Bettchen, schlief sie bereits wieder.
Ich lehnte die Kinderzimmertür an und ging mit meiner Nac h barin ins Wohnzimmer.
» Bleiben Sie noch einen Moment? «, fragte ich.
» Gern. «
Nachdem ich eine Flasche Rotwein und zwei Gläser geholt hatte, setzte ich mich zu ihr und schenkte uns beiden ein. » Montag sind es schon vier Wochen. Ein Teil von mir hat begriffen, dass er tot ist. Aber der andere Teil hofft immer noch, alles sei nur ein böser Traum gewesen und er werde jeden Moment zur Tür hereinkommen. Manchmal glaube ich sogar, seinen Schlüssel im Schloss zu hören. Wenn ich dann merke, dass es eine Sinnestäuschung war, dann … dann … « Meine Stimme versagte.
» Dann haben Sie das Gefühl, der Schmerz sei schlimmer als je zuvor. Und Sie haben Angst, dass es nie mehr besser werden wird. Aber es wird besser, Frau Gaspary. Irgendwann werden Sie diesen scheinbar unbezwingbaren Berg überwunden haben. Sie werden das erste Weihnachten ohne Ihren Mann überstanden haben, den ersten Hochzeitstag ohne ihn und den ersten G e burtstag. Sie werden seinen Nachlass geregelt haben und entscheiden, was mit seinen Sachen geschehen soll. Sie werden einen neuen Platz für ihn in Ihrem Leben finden und nach und nach beginnen, wieder zu leben. Sie werden begreifen, dass ihn loszulassen nicht bedeutet, ihn zu verlieren. « Sie schwenkte das Rotweinglas zwische n d en Händen. » Wann immer ich ein Foto meines Mannes ansehe oder an ihn denke, spüre ich, wie präsent meine Liebe ist. Sie ist mir geblieben. Ebenso wie die Erinn e rung an seine. Das ist ein gutes Gefühl. « In ihrem Lächeln hielten sich Freude und Traurigkeit die Waage.
» Vor allem ist es ein Gefühl, das den Schmerz lindert. «
» Begegnet Ihr Mann Ihnen manchmal in Ihren Träumen? «
» Bisher nur ein einziges Mal. Es war zwei Wochen nach seinem Tod. Wir fuhren gemeinsam im Auto.
Weitere Kostenlose Bücher