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Im Antlitz des Herrn

Im Antlitz des Herrn

Titel: Im Antlitz des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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darüber.
    Heute funktionierte es nicht. Er versuchte sich zwar die festliche Gesellschaft an Bord des Dinner Cruiser vorzustellen, die Herren im Smoking, die Damen in feinen Abendkleidern, aber immer schob sich Henderson dazwischen. Er machte ihm Angst. Die anderen hatten seine Andeutung über die Kirche und ihre gewalttätige Vergangenheit mit einem Lachen abgetan. Selbst Latour, der heute Morgen noch vom «langen Arm» der Kirche gesprochen hatte, winkte ab.
    «Sie werden uns einfach zu Lügnern erklären. Sobald wir unsere Ergebnisse präsentieren, werden zehn, ach was, zwanzig, dreißig Kollegen aufstehen und uns jegliche Kompetenz abstreiten. Nach kürzester Zeit wird die Presse über uns herfallen, und nach einem Jahr ist die ganze Sache vergessen. So haben sie es immer gemacht, so werden sie es auch diesmal machen.»
    Engel hatte Henderson beobachtet, während Latour sprach. Er war ruhig geblieben, fast unbeteiligt. Nur ein kaum wahrnehmbarer spöttischer Zug umspielte seine Lippen. Er strahle eine unantastbare Selbstsicherheit aus. Wie ein Mann, der einen unumstößlichen Plan hatte und absolut sicher war, die Situation im Griff zu haben. Engel begann zu verstehen, was in dem Mann vorging. Er hatte die Reaktionen der Kirche in seiner Strategie berücksichtigt. Deshalb die Geheimniskrämerei, deshalb die Kasernierung des Teams. Henderson hatte alle Fäden in der Hand. Die Öffentlichkeit würde nur erfahren, was er wollte. Er bestimmte den Zeitpunkt und die Medien, derer er sich bediente. Damit war er seinen Gegnern immer einen Schritt voraus. Doch wer waren diese Gegner? Engel hatte am eigenen Leib erlebt, wie die Kirche mit unangenehmen Erkenntnissen umgeht. Aber was war seine «Heilige Familie» gegen die Entdeckung der sterblichen Überreste Jesu? Verdammt. Er erschrak bei diesem Gedanken, jetzt unterstellte er schon selbst, dass diese Spekulation die Wahrheit sein könnte. Hendersons Fanatismus war ansteckend, und Engel spürte, wie das Fieber im Team von Stunde zu Stunde stieg. Nach Latours Ausführungen zweifelte niemand mehr daran, dass die Inschriften echt waren, und er selbst ging von Anfang an davon aus, dass es sich um ein Familiengrab handelte. Wie sollte man bei einer derartigen Namenskombination nicht ins Spekulieren geraten? Was würde geschehen, wenn die gesicherte DNS ausreichte, nachzuweisen, dass Maria die Mutter dieses Jesus war, dessen Skelett sie in gutem Zustand geborgen hatten? Das Fieber würde weiter steigen. Engel versagte sich alle weiteren Gedanken über mögliche Erkenntnisse, die ihnen diese Knochen liefern konnten. Sie waren dabei, eine Lawine auszulösen, die abseits aller akademischen Debatten die Welt verändern könnte. Zweitausend Jahre hatte ein großer Teil der Menschheit an eine letztendliche Wahrheit geglaubt, die sich jetzt als frommes Märchen entpuppte. Auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Darum ging es Henderson. Er wollte das Christentum als Irrglauben entlarven. Mehr noch: Er wollte es der Lächerlichkeit preisgeben.
    Engel erinnerte sich an ein Gespräch, das sie vor einigen Monaten geführt hatten. Henderson hatte ihn zu einer Grabung auf dem Sinai gebeten, wo eine frühchristliche Versammlungsstätte entdeckt worden war. Abends saßen sie im Hotel an der Bar und spekulierten darüber, wie und warum es das Christentum schaffen konnte, innerhalb kürzester Zeit von einer unbedeutenden, jüdischen Sekte zur Weltreligion aufzusteigen. Als Engel versuchte, die Vielschichtigkeit dieser Frage zu reflektieren, stoppte ihn Henderson mit einer barschen Handbewegung.
    «Entschuldigen Sie, Professor, aber das ist akademisches Geschwätz. Die Wirklichkeit ist viel einfacher. Wenn ich Sie richtig verstehe, war Paulus der große Stratege im frühen Christentum. Er hat den christlichen Glauben sozusagen kreiert, oder?»
    Engel fand die Wortwahl zwar ein bisschen gewagt, nickte aber trotzdem.
    «Wissen Sie was», fuhr Henderson fort, «dieser Paulus war viel cleverer, als Sie denken. Er hatte in der Tat eine Vision. Allerdings erschien ihm dort nicht Gott oder Jesus, sondern er entdeckte die Möglichkeiten, die in den spinnerten Ideen dieser Jesus-Jünger steckten. Bald war ihm klar, dass etwas Entscheidendes fehlte. Alle Religionen hatten Götter, viele glaubten sogar daran, dass sie Menschengestalt annehmen können. In keiner Religion aber wurde der Gott ein Mensch mit allem, was dazugehört: Leid, Schmerz, Tod. Damit konnte man punkten. Gleichwohl durfte der

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