Im Antlitz des Herrn
Institute waren 1988 unabhängig voneinander zu diesem Ergebnis gekommen. Sie hatten in einer Blindprobe kleine Stückchen des Tuchs mit der Radiokarbonmethode untersucht. Sogar die Kirche hatte sich daraufhin von der Echtheit der Reliquie distanziert, was ihr nicht leicht gefallen sein dürfte.
Latour war mit Engels Notlüge sichtbar zufrieden.
«Da scheine ich ein bisschen Zweifel gesät zu haben.»
Henderson hatte sich umgedreht und blickte nach vorne auf die Straße.
«Was wissen Sie über das Tuch, André?»
«Nicht viel. Es ist nicht mein Fachgebiet. Aber ich kenne jemanden, der Ihnen helfen kann. Er ist ein wandelndes Lexikon und kennt auf jede Frage bezüglich des Grabtuchs eine schlüssige Antwort.»
Latour griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein abgewetztes Notizbuch heraus. Mit einem einzigen Ruck riss er eine leere Seite heraus, blätterte das Adressverzeichnis auf und schrieb einen Namen und eine Telefonnummer auf.
«Rufen Sie den Marchese an. Ich bin sicher, er hilft uns gerne.»
Na bitte, dachte Engel, das klappt wunderbar. Dieser Marchese ist wahrscheinlich einer dieser esoterischen Spinner, die sich alles Mögliche im Zusammenhang mit dem Tuch zusammenreimen. Damit ließe sich hervorragend Zeit gewinnen.
Engel schaute aus dem Fenster. Sie hatten die Docklands erreicht, und der Wagen fuhr in eine Tiefgarage.
«Das ist aber nicht die Einfahrt zu unserem Luxusgefängnis.»
«Natürlich nicht, dann hätten wir dem Vatikan ja gleich eine E-Mail mit Ihrem Aufenthaltsort schicken können.»
Henderson hatte vor Jahren, als noch niemand an den Wiederaufstieg der alten Londoner Docks zu einer der ersten Adressen in der Stadt dachte, mehrere Häuser gekauft. Den ursprünglichen Plan, sie alle zu bebauen, hatte er fallen gelassen, als die Grundstückspreise derart gestiegen waren, dass mit dem Verkauf ein lukratives und schnelles Geschäft zu machen war. Das Gebäude, in dem das Labor und die Unterkünfte des Teams untergebracht waren, gehörte einer Immobiliengesellschaft, die vor einem Jahr Konkurs angemeldet hatte. Henderson hatte es kurzerhand vom Konkursverwalter für die Dauer von drei Jahren gepachtet und das Innere unbemerkt umgebaut. Im Gebäude, in dessen Tiefgarage sie jetzt eingebogen waren, besaß Henderson ein Penthouse, in dem er mehrere Tage in der Woche verbrachte. Was niemand wusste: Beide Gebäude waren, obwohl sie fast fünfhundert Meter voneinander entfernt lagen, durch einen Schacht verbunden. Er war vor Jahren, als noch die Bebauung des gesamten Geländes durch Henderson Elektrics vorgesehen war, angelegt worden, um Versorgungseinrichtungen gemeinsam nutzen zu können. Durch diesen Schacht gingen die drei Männer jetzt in das andere Haus.
Als sie den Fahrstuhl in ihrem Domizil betraten, lachte Henderson über das ganze Gesicht.
«Dann werde ich mal den Herrn Papst anrufen und unseren Besuch avisieren. Wenn Sie telefonieren wollen», er deutete auf Engel und Latour, «bitte sehr. Meine Männer werden allerdings mithören, also keine allzu verwegenen Intimitäten.»
***
Di Lucca packte seinen Koffer. Die Ereignisse überschlugen sich geradezu. Er hätte nicht damit gerechnet, so schnell wieder in Rom zu sein. Vor einer Viertelstunde hatte Legado angerufen. Er war aufgekratzt und fröhlich wie lange nicht mehr.
«Sie kommen nach Rom, John. Alle!»
Auch er war von dieser Entwicklung überrascht. Mehr noch, er traute dem Frieden nicht. Angeblich habe Pastor Engel Henderson überzeugt, zuerst mit dem Vatikan zu reden, bevor er mit seinem Fund an die Öffentlichkeit ging. Di Lucca traute das diesem kleinen Dorfpfarrer einfach nicht zu. Henderson war ein Fanatiker, der sich nicht in wenigen Stunden davon abbringen ließ, das größte Ziel seines Lebens hintanzustellen. Da ging etwas anderes vor, und es machte ihn nervös, dass er keine Ahnung hatte, welche Pläne der Brite verfolgte. Er wollte dem Bischof nicht die gute Laune verderben und stimmte in den Lobgesang auf die Fähigkeiten der Geistlichen ein.
«John, Sie müssen sofort zurückkommen. Nehmen Sie die nächste Maschine, die Sie kriegen können. Das Treffen findet bereits morgen am Nachmittag statt. Ich brauche Sie hier.»
Er legte als Letztes das Brevier auf die Kleidung in seinem Koffer und schloss ihn. Anschließend setzte er sich auf die Bettkante und wählte eine Nummer aus dem Adressspeicher seines Handys. Es dauerte lange, bis sich jemand meldete, fast hätte er die Geduld verloren und
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