Im Antlitz des Herrn
Blick, inzwischen schämte er sich. Sein Bruder hatte nicht unrecht, im Grunde genommen hatte er seine Seele verkauft. Henderson hatte ihm seine Freiheit genommen, verbot ihm, seine Ergebnisse zu veröffentlichen, und untersagte ihm jeglichen Kommentar zu späteren Verlautbarungen der HAF im Zusammenhang mit dem Jesus-Grab. Er hatte sich zum Sklaven machen lassen, der weder über seinen Körper noch über seinen Geist frei verfügen konnte. Er sollte diesem Spiel ein Ende setzen. Vor allem aber musste er Angela und Hannah aus der Schusslinie bringen.
Der Pick-up fuhr durch ein ausgedehntes Tunnelsystem. Das Mausoleum war ein unterirdischer Raum und keine Fabrikhalle, wie Engel vermutet hatte. Die Tunnelröhre war gerade groß genug für das Auto. Die Wände waren grob in den Stein gehauen, es sah aus, als wären sie Jahrzehnte nicht mehr benutzt worden.
«Interessant», beendete Latour das Schweigen, das seit ihrer Abfahrt geherrscht hatte. Henderson hob den Kopf und unterbrach das Schreiben einer Kurzmitteilung auf seinem Handy.
«Ja, nicht? Henderson Elektrics kaufte nach dem Krieg einige Rüstungsfirmen, die Elektrik für Kampfflugzeuge herstellten. Die Produktion war zum großen Teil in unterirdische Stollen verlegt worden. Alles unterlag höchster Geheimhaltung. Es existierten keine Lageskizzen und keine Karten des Tunnelsystems. Als ich die Firma verkaufte, habe ich manche der alten Gebäude behalten. Eine gute Entscheidung, wie sich jetzt gezeigt hat.»
Das Auto erreichte endlich die Erdoberfläche. Sie befanden sich auf einer alten Industriebrache. Die Tunneleinfahrt war nur zu erkennen, wenn man sich fast unmittelbar davor befand. Der Fahrer steuerte eine kleine, vierhundert Meter von der Tunneleinfahrt entfernte Halle an. Engel schaute sich um. Das gesamte Gelände war befestigt wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Stacheldrahtzäune, Mauern, Wachhäuschen. An der Längsseite stand ein einzelnes, modernes Gebäude, weitere waren im Bau, er sah Bagger und Kräne. Als der Pick-up sich der Halle näherte, öffnete der Fahrer das Tor mit einer Fernbedienung. Als sie die Einfahrt passierten, piepste Engels Handy. Henderson grinste ihn an.
«Na, wieder Kontakt in die Welt?»
Engel zog das Telefon aus der Tasche und las auf dem Display. «Vier neue Nachrichten. Acht Anrufe in Abwesenheit.»
Ehe er die Anrufliste öffnen konnte, sagte Henderson:
«Dafür ist später Zeit genug. Jetzt müssen wir noch einen kleinen Spaziergang machen.»
In der Halle standen mehrere Jeeps und Pick-ups, dazu Baufahrzeuge und -maschinen. Henderson stieg eine Leiter herunter, und die beiden anderen folgten ihm. Sie erreichten einen weiteren, für Fahrzeuge zu schmalen, schwach beleuchteten Tunnel. Nach einigen Hundert Metern kamen sie zu einem Ausstieg, der in einen kleinen, gefliesten Raum führte. Als sie herausgestiegen waren, öffnete Henderson eine Tür, und sie betraten eine große Halle, in der Arbeiter elektrische Leitungen verlegten. Engel vermutete, dass es sich um das bereits fertiggestellte Gebäude am Rande des Geländes handelte, und Henderson bestätigte das.
«Willkommen im neuen, zentralen Verwaltungsgebäude der HAF. Niemand denkt sich etwas dabei, wenn ich hin und wieder für ein paar Stunden hier bin. Und Arbeiter fallen hier auch nicht auf.»
Sie verließen das Gebäude und stiegen in einen bereitstehenden Rolls-Royce mit HAF-Logo auf den Türen. Nachdem sich alle in die bequemen Polster gelehnt hatten, wandte sich Engel an Latour:
«Was hast du vorhin gemeint, André? Mit wem sollen wir reden?»
Latour blickte von einem zum anderen.
«Vorher muss ich wissen, was Sie alle über das Turiner Grabtuch wissen.»
Engel ignorierte die Frage, holte sein Handy aus der Tasche und öffnete den SMS-Eingang. Alle drei Nachrichten waren von Angela und stammten von den drei aufeinanderfolgenden Tagen.
«Warum meldest du dich nicht? Hoffentlich ist bei dir alles genauso okay wie hier. Küsse, A.»
«Hannah ist verschwunden! Was soll ich tun? Thomas kommt und will mir helfen. Bitte melde dich.»
«Nachricht erhalten. Sind in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen. A&H»
Noch während er die letzte Nachricht las, wandte er sich wieder Latour zu:
«Das Turiner Grabtuch ist eine Fälschung. So lautet die offizielle Version. Ich bin mir da nicht mehr so sicher.»
Das war gelogen. Engel hatte keinen Zweifel daran, dass der Stoff des Tuchs aus dem 13. oder 14. Jahrhundert stammte. Drei renommierte wissenschaftliche
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